Ein Nachruf auf Dr. Werner Huth – Mentor, Mitmensch, Pazifist: Der Psychiater und Psychotherapeut ließ sich in seinem Wirken von Gelassenheit und Menschlichkeit leiten. Seine Kriegserfahrung prägte ihn: Bis zuletzt sprach er sich gegen Waffengewalt aus

Seine große Bekanntheit verdankt der Psychotherapeut und Meditationslehrer Dr. Werner Huth einer kleinen Fußnote seines beruflichen Schaffens. Als im bundesweit diskutierten Missbrauchsfall „H“ vor ein paar Jahren von katholischer Seite behauptet wurde, dass sie über Jahre keinerlei Hinweise auf ein dauerhaftes Fehlverhalten des Priesters in Händen gehalten habe, meldete sich Werner Huth dann doch zu Wort. Er war es gewesen, der vor Jahrzehnten als beauftragter psychiatrischer Gutachter die Verantwortlichen in der Kirche detailliert darauf hingewiesen hatte, dass von H. eine regelrecht kriminelle Energie ausgehe, die dessen Arbeit in der katholischen Kirche gerade mit jungen Menschen für immer verbiete.

Mit diesem notwendig gewordenen, öffentlich gegebenen Hinweis schaffte es der Psychiater und Psychotherapeut in alle großen Zeitungen dieses Landes, am Ende sogar auf die Titelseite der New York Times.

Dabei war Werner Huth ein Mann, der sonst lieber im Verborgenen wirken wollte. Kennengelernt habe ich ihn als junger Student. Ich arbeitete damals im Rahmen meiner Doktorarbeit an der Frage, ob es zwischen dem Wissen der Psychologie und der Psychoanalyse, dass ein Mensch weit mehr ist als das, was naturwissenschaftlich erkennbar ist, und der Erfahrung der Kunst, die vor allem auch in der Literatur die unbewussten Kräfte des Menschen bespielt, Parallelen gibt.

Werner Huth war damals Lehrbeauftragter an der „Hochschule für Philosophie“ der Jesuiten in München. Es war die Frage des Schweizer Schriftstellers Max Frisch, der schreibt: „Ich kann nicht glauben, dass das, was ich sehe, schon der Lauf der Welt ist“, die auch ihm das Thema war, das ihn ein Leben lang beschäftigte. Werner Huth war Schüler des Schweizer Psychoanalytikers Leopold Szondi, der noch als Zeitgenosse Sigmund Freuds im brieflichen Austausch mit dem Begründer und Großmeister der Psychoanalyse gestanden war. Szondi hatte die sogenannte „Schicksalsanalyse“ begründet, die sich mit der Frage beschäftigte, welche Freiheitsräume ein Mensch im Rahmen seiner familiären Vorgegebenheiten denn hat.

Und so wurden die Gespräche mit Werner Huth über das Thema meiner Doktorarbeit sehr bald auch Gespräche über das Leben selbst, am Ende auch über mein eigenes Leben.

Im Traum in die Seele blicken

Werner Huths Grundverständnis des Menschen war die Einsicht, dass es die Träume sind, die den Weg zur inneren Wahrheit eines Lebens aufzeigen wollen. Sigmund Freud hatte den Traum als die „via regia“ (Königsstraße) ins Unbewusste des Menschen gedeutet. Huth folgte diesem Verständnis der Träume. Fast nur im Traum sei es uns möglich, tief in die eigene Seele hineinzuschauen und unsere innere Wirklichkeit zu erkennen.

Wir träumen von unseren Müttern, von unseren Freunden, von Erlebtem und von Erhofftem, aber all das in einer verschlüsselten Form. In Bildern, die auf den ersten Blick nicht aussagekräftig sind, die bunt, aber verwirrt erscheinen. Erst im Nachdenken und Nachsinnen seien diese Botschaften aus dem Inneren der Seele zu entwirren und zu verstehen. Schon bald blickte ich selber ganz anders auf meine Träume, begann sie nachts zu notieren, um sie am Morgen mit der Kühle des Verstandes zu verstehen und zu enträtseln.

In vielen Begegnungen mit Werner Huth bemerkte ich, dass sich mein Leben veränderte. Die Rastlosigkeit der äußeren Welt fand durch die Begegnungen mit ihm einen Gegenpol, einen Ruhepunkt der sich nach innen entwickelnden Seele, sodass von dort her die Welt ganz anders erlebt und verstanden werden konnte.

Werner Huth war aber gerade nicht nur ein Mann, der sich mit der Psychologie und der Psychoanalyse beschäftigte. Als Arzt war er an allen Fragen der Naturwissenschaft zutiefst interessiert. Dass mich nicht interessierte, wie das Sternensystem über die Jahrmillionen entstand und verging, sondern mir allein der flüchtige Blick in den Sternenhimmel reichte, machte ihn regelmäßig fassungslos. Die Faszination dieses Sternenhimmels lehrte ihn eine Bescheidenheit, die ihn dann auch zu seinem Gottesbild führte.

Humorvolles Hinschauen auf den Lauf der Welt

Gott war für ihn nicht in den Bildern und der Sprache eines vereinfachenden Glaubens fassbar, sondern eher in dem berühmten Satz von Albert Einstein: „Im Weltall waltet ein dem Menschen unendlich überlegener Geist.“ Ein solches Glaubensverständnis führte ihn in einem nächsten Schritt dann auch zu seinem großen Interesse an allen Religionen dieser Welt, vor allem aber zum Buddhismus. Den Dalai Lama hatte er zu seiner großen Freude persönlich kennengelernt. Das Mitleid, das Mitgefühl, die Empathie, die der Buddhismus lehrt und die beim Dalai Lama so stark zu erleben gewesen sei, das war es, was er als Arzt und Mensch in seine Begegnungen mit seinen Freunden und allen anderen mit hineinnahm.

Diese Haltung des Mit-Mensch-Seins war es, die seine Persönlichkeit in jedem Augenblick prägte. Ironie und Zynismus war ihm so natürlich fremd, ein humorvolles Hinschauen auf den Lauf der Welt dagegen war immer Teil jedes Treffens mit ihm. Ruhe und Gelassenheit gerade in schwierigen Situationen, das war es, was er als Lösungsstrategie für alle Situationen, die so schwierig erschienen, empfahl. In einer Welt, die allzu oft glaubt, sich jeden Tag neu erfinden zu müssen, wusste er, wie lange die Zeit- und Entwicklungsräume sind, in denen sich Dinge verändern. Geduld brauche es also – und wenn man mit dieser Geduld etwas erreicht habe, dann die Fähigkeit, den Schritt zurück in alte und überwundene Lebensmuster nicht mehr zuzulassen.

Ein Bewunderer von Goethe und Wilhelm Busch

Wer die Möglichkeit hatte, sich mit Werner Huth immer wieder zu treffen, der konnte spüren, dass das eigene Interesse für die Welt der Kultur plötzlich wuchs. Dass sich geistige Türen öffneten, an denen man vorher achtlos vorbeigegangen war. Werner Huth war ein großer Bewunderer von Johann Wolfgang von Goethe und konnte ihn seitenweise aus dem Gedächtnis zitieren. Dass er dasselbe mit Wilhelm Busch vermochte, spricht für ihn. Johann Sebastian Bach war für ihn das Höchste, was Musik zu leisten vermag. In der wechselseitigen Polarität von Ordnung und Kreativität bei Bach fand er sich als Mensch zutiefst wieder.

Dass die Welt von heute all das immer mehr vergisst und sich in einen immer oberflächlicheren und schnelleren Lebensstil flüchtet, erfüllte ihn mit einer tiefen Trauer. Und so hatte er sogar für den von der Welt so tief geängstigten deutschen Papst Benedikt, der aus seiner Angst heraus so weltabgewandt war, ein hohes Maß an Verständnis: „Der sieht doch einfach, wie all das wegschwimmt, was uns über die Jahrhunderte geprägt hat“, fasste er das zusammen.

Der Verlust an Spiritualität, an Mitmenschlichkeit, an Sorge um die Natur bei den Mächtigen in der Welt, das beschäftigte ihn jeden Tag wieder neu und es fiel ihm manchmal nicht leicht, über diesen Fragen nicht resignativ zu werden. Über die vielen Jahre unserer Begegnungen waren wir längst Freunde geworden und hielten gegenseitig mit unseren Befürchtungen um die Zukunft dieses Planeten nicht hinter dem Berg. Bei aller Hoffnung und allem Gottvertrauen, das wir uns nicht nehmen lassen wollten.

Entsetzen über die Wiederaufrüstung

Was ihn am Ende seines Lebens entsetzte, war, dass 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus der Vernichtungsspur dieses entsetzlichen Krieges offenkundig nichts gelernt wurde und man in diesen Tagen erneut auf allen Seiten in erster Linie der Kraft der Waffen und der Aufrüstung vertraut. Werner Huth hatte als Kind noch die Grauen des Krieges erlebt – und er wusste, was es bedeutet, wenn Familien die Nachricht vom Tod eines im Krieg gefallen Sohnes erhalten. Oder auch, wenn in der eigenen Kleinstadt der Bombenhagel des Gegners noch in den Luftschutzkellern laut widerhallt. Dass man im Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht jeden Tag wieder neu versuche, mit Politik und im Dialog eine bessere Lösung dieses Konflikts als das wechselseitige Morden zu erkunden, entsetzte ihn.

Was man denn mit einem wie Putin verhandeln könne, fragte ich ihn eines Tages. Seine Antwort war: „Putin hat sich in einer aggressiven Psychose ganz verloren – er tötet den anderen, ohne noch etwas fühlen zu können.“ Was also tun, fragte ich ihn. „Auf keinen Fall den Kontakt mit ihm abbrechen, ihn nicht isolieren, jeden Tag neu im Gespräch mit ihm bleiben.“ Mit diesem Rat wären die Gegner Putins in der westlichen Wertewelt wohl besser gefahren als mit dem Aufbau eigener Feindseligkeit, die das Morden auf beiden Seiten immer weiter verstärkt.

Und das Handeln Benjamin Netanjahus im Gaza-Streifen entsetzte ihn am Ende seines Lebens nicht weniger. Werner Huth hatte in seinen jungen Jahren viele jüdische Lehrer gehabt, die er liebte und ein Leben lang in seinem Inneren verehrte. Einer wie Netanjahu, der Tausende von Menschen, die sich nicht wehren könnten, rücksichtslos töten lasse, um die eigene Haut vor der Justiz in Israel zu retten, habe mit dem Judentum, das er ein Leben lang kennen und lieben gelernt habe, aber nun wirklich gar nichts zu tun, meinte er am Ende seines Lebens.

Das war die innerste Weisheit des alt gewordenen Arztes und Lehrers: Jeder Mensch zählt. Jedes Leben ist von Gott gewollt. Es darf nicht sein, dass das Leben von Menschen in Kriegen oder auch sonst missbraucht und verzweckt wird – und sei es auch im Blick auf zukünftige Generationen, die es dann vermeintlich besser hätten.

In seinen schönen Büchern, die Werner Huth über die Jahre geschrieben hat, steht dieser Gedanke im Vordergrund. Das war der innerste Kern des Denkens, Lebens und Schreibens des Psychotherapeuten Dr. Werner Huth, der letzte Woche im hohen Alter von 95 Jahren im Kreis seiner Liebsten friedlich einschlafen durfte.

Literaturhinweis: Werner Huth, Glaube, Ideologie und Wahn, neu erschienen bei Attenkofer 2023

Straubinger Tagblatt vom 15. März 2025