Da konnte man schon eine Charakterstudie zeichnen, als letzte Woche in der Talkshow bei Anne Will nach des Kanzlers Entscheidung, doch wenigstens eine kleine Anzahl von Kampfpanzern zu liefern, wieder einmal die unvermeidliche FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann eingeladen war. Auch wenn die Kampfpanzer jetzt an die Ukraine überstellt werden, so zeigte sie sich doch unzufrieden. Alles zu spät und zu wenig, so der Tenor ihres Statements.
Interessant war dabei ihre Sprache. Immer wieder meinte sie: „Man erwartet von uns“ oder sie sprach vom „Blick der Geschichte auf uns“. Solch anonyme Außenlenkung eines Bewusstseins hat der amerikanische Soziologe David Riesman schon vor Jahrzehnten in der Nachfolge von Sigmund Freud als Fremdbestimmung des Menschen diagnostiziert. Statt einer selbstbestimmten Autonomie und eines eigenverantwortlichen Handelns zeigen sich in einem solchen Verhalten und Sprechen anonymisierte Erwartungshaltungen, die streng internalisiert wurden. Das berühmte „man“, wie es der Philosoph Martin Heidegger auf den Begriff bringt und kritisiert.
Wer erwartet was von uns? Sind diese Erwartungen berechtigt? Was wollen wir selbst ? Das wären die richtigen Fragen, die es zu stellen gilt. Ein eingeschränktes Bewusstsein dagegen richtet sich nach einer Erwartungshaltung, die es zu befriedigen sucht.
Interessant war auch die Kritik der FDP-Politikerin, dass die Entscheidung nicht schon zwei Tage vorher in Ramstein im Kreis der verbündeten Verteidigungsminister gefällt wurde. Bildmächtig wäre eine solche Entscheidung schon zwei Tage vorher gewesen, ein Journalist in der Diskussionsrunde stimmte ihr zu. Auch hier: Die szenisch ins Bild gesetzte Außenwirkung wird gegenüber einem vorsichtigen eigenständigen Denken und Handeln ins Recht gesetzt. Dass Journalisten an solchen Bildern interessiert sind, ist klar. Aber die Aufgabe von Politikern ist doch verantwortungsvolles Handeln, das sich einem vorschnellen Weg in die Öffentlichkeit gerade verweigert. Der Kanzler handelt genau so: spröde, wortkarg, aber doch souverän. Seine Entscheidung exakt nicht zu spät. Genau so und nur so wurde den Amerikanern abgerungen, auch selbst teilzunehmen an der von ihnen am Ende von anderen eingeforderten Lieferung von Kampfpanzern, bei der sie selber eigentlich gar nicht mitmachen wollten. Solche Politik schützt uns in diesem Land. Eigene Interessen ins Spiel zu bringen und auch durchzusetzen. Uns nicht von Erwartungen anderer treiben zu lassen, sodass wir plötzlich selbst als Aggressoren in einem Krieg, der mit uns erst einmal nichts zu tun hat, gedeutet werden.
Noch ein Aspekt zu den Amerikanern: Jahrzehntelang war die Sowjetunion der gefürchtete und oft auch verhasste Gegner. Bis in den Sport und in die vielen bekannten Kinofilme hinein war das über fast 50 Jahre die DNA des politischen und gesellschaftlichen Bewusstseins der USA. Erinnern wir uns: der Kalte Krieg, der Kampf gegen den Kommunismus, oft in Mittel- oder Südamerika, aber auch damals in Vietnam. Jahrzehntelang. In diesem amerikanischen Bewusstsein ist Michail Gorbatschow mit seinem Friedensangebot an die Welt nur eine kurze Episode.
Heute heißt der Gegner neben China Russland – und günstig für die USA: In diesem Krieg in der Ukraine sterben – anders als in den 60er-Jahren in Vietnam – keine amerikanischen Soldaten, sondern ukrainische Söhne und Töchter am Rande Europas. Fast einer Fremdenlegion vergleichbar. Frage: Haben wir in Europa wirklich – bei aller Verbundenheit – dieselben Interessen wie die Amerikaner?
Und wir Europäer? Natürlich auch kein einheitliches Bewusstsein: Die Geschichte Polens oder der Balten ist eine ganz andere als die von uns selbst oder den Franzosen. Sollen aber wir uns zuerst nach deren Gefühlen, Ängsten oder Bedürfnissen richten? Die entscheidende Achse Europas bleibt Deutschland und Frankreich.
Vor ein paar Jahren wurde hier und in anderen europäischen Ländern noch debattiert, ob Polen mit seinem Verständnis von Justiz und Medien Teil dieses Europas, das für Demokratie und Rechtsstaat steht, bleiben kann. Und jetzt?
Mit seinem vorsichtigen und am Interesse Deutschlands orientierten Handeln zeigt sich Olaf Scholz als überraschend starker und souveräner Kanzler. Bei dem Druck, der von allen Seiten auf ihn einwirkt, eine gewaltige Leistung!
Straubinger Tagblatt vom 30. Januar 2023