Drei Möglichkeiten für Frieden – Politikwissenschaftler Herfried Münkler arbeitet sich an Modellen für den Ukraine-Krieg ab

Einer der angesehensten Politikwissenschaftler in diesem Land ist Herfried Münkler. Nicht nur an den Universitäten gerne gehörter Dozent, sondern auch in den Medien häufig eingeladener Gast, der etwas zu sagen hat. In einem hochinteressanten Vortrag hat Münkler jetzt unaufgeregt die verschiedenen Strategien, die zu Frieden führen können, nebeneinandergestellt und in ihren Vorzügen und Nachteilen bewertet. Eingebettet hat Münkler diese Strategien in eine globale Analyse der Gegenwart, wo er aufzeigt, weshalb heute mitten in Europa kriegerische Auseinandersetzungen historisch möglich geworden sind.

„Wenn wir den Ukraine-Konflikt wirklich begreifen wollen, müssen wir also diesen größeren Raum betrachten. Geopolitik, deren Fragen und Antworten wir jetzt wieder in zunehmendem Maße zu bedenken genötigt sind, sucht geografische Räume unter dem Gesichtspunkt ab, wo sich Konflikte mehren oder überlappen und deswegen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Kriegen besteht. Bei dieser Suche sticht der Raum um das Schwarze Meer hervor, und zwar als ein Balken, der tief nach Europa hineinragt und tendenziell bis Bosnien und Herzegowina oder vielleicht auch noch weiter reicht. Dieser Balken mit einer Länge von etwa tausend Kilometern wird die Europäer auf Jahrzehnte hinaus beschäftigen. Und er wird sie, wenn sie ihn pazifizieren wollen bzw. müssen, viel Geld und Mühe kosten.“ Als prinzipiell kriegsbereite Akteure, die mit Gewalt Grenzen verschieben wollen, nimmt Münkler nicht nur Russland, sondern vor allem auch die Türkei und Serbien wahr. Solch „revisionistische Mächte sind dadurch definiert, dass sie nicht einverstanden sind mit der bestehenden Ordnung, vor allem mit den gegenwärtigen Grenzziehungen, die sie revidieren wollen.“ Von dieser Hypothese ausgehend formuliert Münkler seine Frage: „Wie pazifiziert man revisionistische Mächte?“

Wohlstand zieht dem Bösen den Stachel

Möglichkeit Nummer 1: „Wohlstandstransfer“. Dem Bösen wird der Stachel genommen, indem man für wirtschaftlichen Wohlstand sorgt. Münklers Beispiel: die Einbindung der Vertriebenen in die neu geschaffene Bundesrepublik. Ein Erfolgsmodell. Die Landsmannschaften treffen sich zwar bis heute in ihren Trachten, aber ein revisionistischer Impuls gegenüber Polen geht von da nicht mehr aus. Die 1945 Vertriebenen sind im Erfolg der Bundesrepublik angekommen und friedlich geworden. Nachteil: Ein solches Wohlstandsmodell hat nur dort Erfolg, wo breite gesellschaftliche Schichten davon profitieren. In Russland aber sahnen wenige Oligarchen ab, während der Großteil der Bevölkerung von dieser langfristigen Strategie des Westens keinen Nutzen hatte. Zweites Problem: Überall dort, wo Ideologien stärker sind als wirtschaftlicher Erfolg – etwa beim Islamismus – scheitert ein solches Wohlstandsprojekt ebenso.

Möglichkeit Nummer 2: „Pazifizierung durch Appeasement“. Hier stellt Münkler erst einmal klar, dass die Appeasementpolitik Chamberlains 1938 immerhin dazu geführt hat, dass der Zweite Weltkrieg ein Jahr später begann. Chamberlain hat also wichtige Zeit gewonnen – ganz gegen den Wunsch Hitlers, der sich Chamberlains Avancen nicht entziehen konnte, obwohl er es wollte. Hitler wollte den Krieg ja schon 1938. In diesem Jahr, das gewonnen wurde, wurde in England die Produktion der bekannten „Spitfires“ stark erhöht. Mit diesen Jagdflugzeugen gewann England die Luftschlacht 1940. Das durch Friedensverhandlungen gewonnene Zeitfenster von einem ganzen Jahr war also ein Friedensgewinn für die Welt in doppelter Weise.

Möglichkeit Nummer 3: „Pazifizierung durch Abschreckung“. Das bedeutet Vertrauen auf die eigene militärische Stärke. Um den „Angreifer an den Verhandlungstisch zu bringen, muss man ihm klarmachen, dass er seine Ziele nicht erreichen kann oder dass die Erreichung dieser Ziele für ihn so teuer und so desaströs sein wird, dass er als politischer Akteur darüber möglicherweise zusammenbricht.“ Im Fall der Ukraine läuft eine solche Strategie für Münkler darauf hinaus, die „ukrainische Durchhaltefähigkeit“ zu stärken, „sei es durch die Lieferung von Waffen oder sei es, was letzten Endes genauso wichtig ist, durch die Garantie der Zahlungsfähigkeit des ukrainischen Staates.“ Nachteil dieser Strategie: der Preis! Während Europa vom „Prinzip des Wohlstandstransfers“ selbst profitiert, sind „Fähigkeiten zum Zwecke der Abschreckung“ richtig teuer. Jeder weiß aber doch, dass in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern Geld an allen Ecken und Enden fehlt. In der Gesundheitsversorgung, in der Pflege von alten und kranken Menschen, bei Angeboten für Familien mit ihren Kindern. Sodass sich zeigt, dass auch dieser Lösungsversuch einen starken Schatten in sich trägt. Frieden schaffen mit immer mehr Waffen ist also auch eine ambivalent zu bewertende Strategie. Noch jenseits der Frage, ob immer mehr Waffen trotz der inhärenten politischen Vernunft, die das begründen kann, nicht gerade zu einer Eskalations- und Gefahrenspirale werden.

Welche Interessen die USA in dem Krieg verfolgen

Auch die Kriegsziele des Westens differenziert Münkler in sorgfältigster wissenschaftlicher Weise. Für die politisch Verantwortlichen in Deutschland und Frankreich wäre eine sinnvolle Friedensposition, dass die Ukraine den Status quo vom 23. Februar 2022 wiedererhält. Also keine Krim – und auch Verlust von Gebieten im Osten des Landes. Ein Kompromiss! Für die Amerikaner dagegen sei das Ziel „ein langer und für Russland verlustreicher Krieg, um auf diese Weise sicherzustellen, dass die Russen in den nächsten 15 bis 20 Jahren nicht mehr in der Lage sind, einen Krieg dieses Ausmaßes zu führen“. So einig, wie das oft dargestellt wird, sind sich die USA und der Westen Europas also gar nicht! Am besten für die Amerikaner wäre es doch, so kann man durchaus folgern, wenn Europa auf lange Sicht den Krieg gegen Russland mit möglichst wenig amerikanischer Unterstützung finanzieren würde. Von daher erklärt sich das eckige Insistieren des Kanzlers auf den Gleichschritt amerikanischer und europäischer Unterstützung für die Ukraine.

Fazit: Offensichtlich ist keine der drei strategischen Möglichkeiten, Frieden zu schaffen, für sich alleine fähig, dieses Ziel zu erreichen. Alle drei Modelle haben Licht- und Schattenseiten. Was es also offensichtlich braucht, ist die richtige Mischung dieser drei Varianten und vor allem ein dynamisches Verständnis von historischen Situationen! Wo gibt es plötzlich realistische Zeitfenster, die Frieden möglich machen? Das statische und aggressive Beharren auf Ansprüchen und Forderungen erscheint mit Blick auf Münklers Analyse als genauso sinnlos wie ein passives Zurückweichen vor den aggressiven Ansprüchen des anderen. Allerdings: Ein bloßes Vertrauen auf militärische Möglichkeiten wird kaum zum Friedenserfolg führen. Die Frage, die Münkler stellt: Wo ist der Punkt, an dem „die politisch Verantwortlichen der Ukraine Verhandlungen aufnehmen können?“ Zusatzfrage, die man schon stellen darf: Sind sich denn die politisch Verantwortlichen in der Ukraine bewusst, dass der Frieden mit Rußland auch in ihrer Verantwortung liegt?

Fußnote: Es gibt noch Möglichkeit Nummer 4: ein Verständnis dafür, dass es auch das Bewusstsein und die Sprache sind, die zu Frieden oder Krieg führen. In seinem neuen Buch „Frieden ist noch immer möglich“ beschreibt der bekannte Friedensforscher Franz Alt, wie sehr Frieden auch von spirituellen und psychischen Voraussetzungen abhängt. Nur wenn wir selbst im Westen endlich verstehen würden, dass gerade auch wir nicht nur gut sind, sondern ebenso Böses in uns tragen, kann für ihn Frieden werden. „Diese andere Seite, das Böse in uns, ist aber nicht ungefährlich, nur weil wir es nicht wahrhaben wollen, im Gegenteil. Weil es existent ist, ohne dass wir es wahrhaben wollen, ist es besonders gefährlich. Weil und solange wir „unsere Schatten nicht erkennen“, sagen die Psychologen, sind diese Schatten besonders gefährlich“. Wir und Selenskyj die Guten, Putin und Russland das Böse. Eine gefährliche Deutung! Ein wirklich spiritueller Mensch weiß, so ein bekannter Psychiater, dass es nicht Kain und Abel gibt, sondern, dass in jedem Menschen Kain und Abel stecken! Ein solches religiöses Wissen, das Alt anspricht, relativiert das übliche Schwarz-Weiß-Denken, wie es gerade im Westen sehr stark dominiert. Von dieser Perspektive her eröffnet sich auch die Frage, welchen Beitrag kann die christliche Religion zum Frieden in der Welt in diesen Tagen leisten. Darüber spricht heute Abend in Straubing der bekannte Münchner Jesuitenpater Karl Kern.

Quellen: Herfried Münkler, Vortrag in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Franz Alt, Frieden ist noch immer möglich. Die Kraft der Bergpredigt, Freiburg 2022.

Straubinger Tagblatt vom 13. Februar 2022