Es gibt im Leben Situationen, die graben sich tief ins kollektive Gedächtnis einer Nation ein. Dazu gehört der lange Gang von Helmut Schmidt nach dem erfolgreichen Misstrauensvotum 1982 auf die andere Seite des Parlaments in Bonn, um seinem Nachfolger Helmut Kohl zu gratulieren. Er konnte seine Verachtung nicht verbergen – und er wollte das auch gar nicht. Später allerdings begann Schmidt Kohl zu schätzen – und kurz vor dessen Tod schrieben sie noch zusammen in der Wochenzeitung „Die Zeit“ einen damals viel beachteten Aufruf, dass es Sicherheit in Europa nur gemeinsam mit Russland geben könne.
Auch Willy Brandt achtete seinen Nachfolger am Ende seines Lebens. Als er sterbenskrank zu Hause lag, besuchte ihn Kohl ein letztes Mal. Wider Erwarten hatte Brandt sich nochmals angezogen und aus dem Bett erhoben. Auf Kohls Einwand, dass das nun wirklich nicht nötig gewesen wäre, antwortete Brandt: „Aber ich weiß doch, was sich gehört, wenn mein Kanzler mich besucht!“
Der viel geschmähte und oft verspottete Kohl war dann doch am Ende ein viel besserer Kanzler, als die Karikaturisten, die sich mit Lust an ihm abarbeiteten, vorausgesehen hatten. Dass es Sicherheit nur mit Wehrfähigkeit und mit Gesprächen geben könne, hatte er aus der Zeit des NATO-Doppelbeschlusses von Helmut Schmidt übernommen. Und dass man sich mit Kritik an Menschenrechtsverletzungen etwa in China nicht ins Schaufenster stellt, sondern nur hinter verschlossenen Türen etwas bewegen kann, war ein selbstverständliches Credo seiner Zeit und ihrer Politiker.
Überhaupt gab es zwischen den starken Figuren dieser Jahre damals am Ende doch ein Klima wechselseitiger Wertschätzung und persönlicher Achtung. Dass Kohl in den letzten Jahren seines Lebens sein Herz an eine jüngere Frau verlor, die seine wirkliche Familie und seine langjährigen Wegbegleiter buchstäblich aus seiner Welt wegbiss, gehört wie die Spendenaffäre zu den ganz traurigen Kapiteln seiner Biografie, ändert aber nichts an den politischen Verdiensten um dieses Land und um Europa.
Es ist schon interessant, dass erst in diesen Tagen vielen im Land politisch bewusstwird, wie sehr dieses Deutschland in den 16 Jahren der Kanzlerschaft von Angela Merkel stagnierte. Was alles an Aufgaben nicht angefasst und auf die lange Bank geschoben wurde. „Ich will Deutschland dienen“, sprach sie in die Kameras der Fernsehstationen – und die Menschen glaubten es gerne. Dass persönliche Ambitionen und Machterhalt wichtiger sind als das Land selbst, Gerhard Schröder hatte es vorgelebt und nicht verborgen. Angela Merkel tat es ihm gleich und verbarg es klug hinter einer biederen Bürgerlichkeit, die von vielen als Bescheidenheit erlebt oder gedeutet wurde.
Mangel an Innovation wurde als Stabilität verkauft, politische Mittelmäßigkeit als Maß und Mitte, narkotisierte Schmerzfreiheit als Sehnsuchtsort für eine Gesellschaft, die sich als Höhepunkt ihres Lebens am Sonntag tagsüber Autorennen und abends den „Tatort“ anschaute, um am Montag beruhigt zu den Arbeitsplätzen dieses Landes zurückzukehren und das Bruttosozialprodukt zu steigern. Das war das Deutschland Angela Merkels.
Um sich politisch durchzusetzen, benutzte sie auf allen Ebenen das einfache Mittel, solange zu verhandeln, bis die Anderen am Tisch endlich schlafen gehen wollten und nachgaben. Simpel, aber wirksam! Und die Konturen der Partei verwischte sie so geschickt nach allen Seiten, dass irgendwo in der Mitte der vor sich hin dümpelnden Gesellschaft sich immer wieder eine Mehrheit fand, die für weitere vier Jahre das „Weiter so“ ihrer Kanzlerschaft unterschrieb.
Das Ende ist bekannt. Der potenzielle Nachfolgekandidat Armin Laschet übernahm den Biedermann allzu offensichtlich und hielt es gerade am Anfang zudem für abwegig, dass die CDU die Wahl zum Kanzler überhaupt verlieren könnte. Die Menschen im Land aber spürten dann doch, dass das Format eines Kanzlers hier nicht vorliegt, und wählten etwas überraschend einen anderen. Was für die Partei folgte, waren erwartungsgemäß Diadochenkämpfe.
Die überschätzte Annegret Kramp-Karrenbauer, der ehrgeizige Jens Spahn und ein Rückkehrer, auf den nun wirklich niemand gewartet hatte: Friedrich Merz, der Verletzte, der nach 20 Jahren noch eine Rechnung offen hatte und jetzt die Stunde gekommen sah, diese Rechnung endlich zu begleichen. Am Anfang hieß es im Umfeld der politischen Beobachter noch: Der wird wieder weggehen … und immerhin – zweimal scheiterte er, bis es dann doch noch klappte. Eine schwere Geburt!
Und jetzt? Die Union hat in Umfragen alleine etwa so viele Wählerstimmen wie die regierende Koalition im Augenblick zusammen. Also alles gut? Politische Lösungen, die überzeugen? Kluge Antworten auf die Themen der Stunde?
Die Wochenzeitung „Die Zeit“ wendet dagegen ein: „Die Union fährt eine riskante Doppelstrategie: Sie will sich als Alternative zur Ampel und andererseits als Alternative zur Alternative für Deutschland präsentieren. Sie will den Volkszorn gegen die Regierung anheizen, ohne selbst davon erfasst zu werden. Sie will von der Wut profitieren, aber verhindern, dass die Wut in allgemeine Systemskepsis umschlägt. Schließlich will man selbst wieder regieren.“ Und weiter: „Die Union macht den Bürgern ein verführerisches, aber auch ein bisschen verlogenes Angebot: Mit uns geht es auf direktem Weg ins Schlaraffenland, in eine Welt ohne Zielkonflikte und komplizierte Abwägungen.“ Also nicht wirklich ein politisches Programm, das brauchbar wäre!
Noch einen Schritt weiter in seinem Urteil geht Kurt Kister, Chef-Redakteur der Süddeutschen Zeitung im Unruhestand, der da schreibt: „Merz verkörpert mit seinem drögen Jahrtausendwendecharme und gelegentlichen aggressiven Ausfällen hart an der Grenze zur politischen Beleidigung den idealen Oppositionsführer … Er würde als Kanzler SPD und/oder Grüne benötigen, um regieren zu können. Das sind jene Parteien, deren Vertreter Merz seit Monaten herabsetzt. Er ist zudem ein Mann, dem es um Macht, seine Macht geht. Für eine moderne CDU steht er nicht …
In den nächsten Jahren aber wird das Land einen in der Regierung sichtbar werdenden Gemeinsinn brauchen.“ Es ist fatal: Der Riss, der in diesen Tagen und Wochen durch dieses Land geht und so beängstigend ist, wird durch Leute wie Friedrich Merz in Stil, Ton und Emotion noch befeuert. Merz war auch der erste namhafte Politiker, der die wichtigen Leistungen der Qualitätsmedien, also Zeitungen, Nachrichtenmagazine und öffentlich-rechtlichen Medien mit dem Aufkommen der sogenannten Sozialen Medien abwertete, indem er sagte: „Die brauchen wir jetzt nicht mehr … wir machen unser Bild von uns selbst jetzt selber …“ Das ist die Haltung Donald Trumps und auch die des rechtsradikalen FPÖ-Vorsitzenden Herbert Kickl in Österreich, der den Qualitätsmedien ganz bewusst fast keine Interviews mehr gibt, aber durch die aggressive Kommunikation auf eigenen sozialen Kanälen in den Wählerumfragen mit 30 Prozent Zustimmung mit Abstand führt.
Man muss wissen: Es führt schon ein Weg von der Hemmungslosigkeit des politischen Sprechens im Netz zu dem, was dann auch plötzlich auf den Marktplätzen dieses Landes gesagt wird oder vermeintlich gesagt werden darf. Die rhetorischen Ausrutscher des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz sind Symptom für etwas, was bedrohlich ist und was der CDU-Vorsitzende in seinem Streben nach Macht mit verkörpert.
Der Zustand der amtierenden Regierung ist beängstigend. Aber dass ein Bundeskanzler in einem Handballspiel der deutschen Nationalmannschaft nicht mehr begrüßt werden kann, ohne ausgepfiffen zu werden, oder zum Gedenken an Franz Beckenbauer vor 30 000 Menschen besser keine Rede mehr hält, damit es diese Pfiffe nicht mehr gibt, ist es auch!
Und festzuhalten ist auch: Diese Regierung ist immer noch demokratisch gewählt und verhält sich als Regierung innerhalb der bekannten demokratischen Spielregeln. Es gibt andere Länder in der Welt und in Europa, die würden sich das von Herzen wünschen. Die bekannte Autorin Juli Zeh meinte in dieser Woche in einer Fernsehdiskussion fast prophetisch, dass die Möglichkeit eines Wegkippens der Demokratie in diesem Land viel näher sei, als die Menschen ahnten. Aber doch: In dieser Woche haben die Menschen in Deutschland begonnen, für die Demokratie auf die Straße zu gehen.
Und der kluge, angenehme, in der Sache kompetente Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Hendrik Wüst – ein wirklich geeigneter Kanzlerkandidat – und der aufrechte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir versicherten sich in einer Fernsehsendung mehrfach gegenseitiger Wertschätzung, so wie sich das für eine funktionierende Demokratie gehört. Und diskutierten die Probleme auf der Sachebene!
Wer jetzt so aufgeregt Neuwahlen fordert, der muss wissen, dass er Friedrich Merz bekommt. Das wäre weder gut für das Land noch für die Union. Gerade die Union sollte deshalb dankbar sein für jeden Tag, den diese Koalition durchhält!
Straubinger Tagblatt vom 20. Januar 2024