Die Zeichen der Zeit nicht erkannt: Der Philosoph Jürgen Habermas wundert sich angesichts internationaler Umbrüche über die politische Kurzsichtigkeit der Europäer – und setzt dennoch auf deren Zusammenhalt

Es ist seit Beginn des Ukraine-Kriegs das dritte Mal, dass der Philosoph Jürgen Habermas in der „Süddeutschen Zeitung“ zur Feder greift, um nicht nur die Situation in der Ukraine aus seiner Sicht zu beleuchten, sondern sie auch in den Kontext der historischen Situation heute weltweit zu rücken. Habermas gilt als der bei Weitem bedeutendste lebende Philosoph hierzulande. Er ist jetzt schon 95 Jahre alt, hat aber vor nicht allzu langer Zeit mit seinem großen Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ nochmals brilliert. Seine Texte zum Ukraine-Krieg wurden gerade von den Intellektuellen mit großem Interesse zur Kenntnis genommen.

Bei diesem dritten Text, der am Samstag publiziert wurde, blickt Habermas auf die Entwicklung der Welt in den letzten Jahrzehnten zurück. Sein Fazit: Die Europäer haben die Augen verschlossen vor einer Entwicklung in den USA, die wenigstens seit der Amtszeit von George W. Bush mit seinem Krieg gegen den Irak in eine falsche Richtung lief. Habermas schreibt wörtlich: „Es ist schwer zu verstehen, warum die führenden Politiker Europas, insbesondere der Bundesrepublik, nicht vorausgesehen haben oder mindestens: warum sie sich blind gestellt haben gegenüber einer in den USA schon seit Längerem angebahnten Erschütterung des demokratischen Systems.“ Den mit dem Ukraine-Krieg wiedergefundenen Glauben an die Nato kritisiert Habermas vor diesem Hintergrund genauso wie die Haltung des Westens gegenüber Russland: „Statt des fahnenschwenkenden Kriegsgeschreis und des lauthals angestrebten ,Sieges‘ über eine Atommacht wie Russland wäre damals ein realistisches Nachdenken über die Risiken eines längeren Krieges am Platz gewesen. Es fehlte der kritische Blick für die Gefahr eines Bruchs mit dem bisherigen Weltwirtschaftssystem und einer bis dahin noch mehr oder weniger ausbalancierten Weltgesellschaft.“

Die eigenen Interessen aus dem Blick verloren

Dieser kritischen Analyse aus dem Blick des Historikers fügt Habermas aber dann noch ein anthropologisch-ethisches Argument hinzu, indem er schreibt: „Ebenso irritierend war überhaupt die öffentliche Unempfindlichkeit für den Ausbruch militärischer Gewalt in Europa: Verschwunden schien jedes Gefühl für die abschreckende Gewalt von Kriegen und für die Tatsache, dass Kriege leicht entstehen, aber schwer zu beenden sind.“ An die Adresse der Regierungen in Europa fügt Habermas dem noch hinzu: „Unverständlich war es, wie sich die Europäer in der trügerischen Annahme eines intakten Bündnisses mit den USA ganz in die Hand der ukrainischen Regierung gegeben, nämlich ohne eigene Zielsetzung und ohne eigene Orientierung auf eine unbedingte Unterstützung der ukrainischen Kriegsführung eingelassen haben.“ Übersetzt in ganz einfache Worte: Der Blick der Europäer war verengt auf den Blick der Regierung in der Ukraine und hat die eigenen Interessen, aber auch die Veränderungen in der gesamten Welt nicht mehr wahrgenommen!

Vor diesem aktuellen historischen Kontext stellt sich Jürgen Habermas zwar hinter die Notwendigkeit einer größeren militärischen Aufrüstung Europas, wo doch die USA erkennbar eigene Wege gehen, kritisiert aber, dass diese mit den „höchst spekulativen Annahmen über eine aktuelle Bedrohung der EU durch Russland“ begründet werde. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch die Medien in diesem Land: „Aus meiner Sicht hat sich die Stimmung in unserem Lande – auch forciert von einer einseitigen politischen Meinungsbildung – in den Sog einer gegenseitigen Verfeindung mit dem Aggressor hineinziehen lassen.“ Damit nimmt Habermas die These auf, die Harald Welzer und Richard David Precht in ihrem Bestseller „Die vierte Gewalt“ bereits am Anfang des Ukraine-Kriegs vertreten haben.

Und so fordert Habermas, dass die geplante Aufrüstung in ein europäisches Gesamtsystem eingebettet werden müsse, damit nicht noch stärker feindselige und nationale Töne bestimmend würden. „Die Mitgliedsländer der Europäischen Union müssen ihre militärischen Kräfte stärken und bündeln, weil sie sonst in einer geopolitisch in Bewegung geratenen und auseinanderbrechenden Welt politisch nicht mehr zählen. Nur als eine selbständig politisch handlungsfähige Union können die europäischen Länder ihr gemeinsames weltwirtschaftliches Gewicht auch für ihre normativen Überzeugungen und Interessen wirksam zur Geltung bringen.“

Mit Recht kritisiert Habermas, wie sehr deutsche Regierungen schon seit der Amtszeit von Angela Merkel die Bemühungen Frankreichs, mehr Europa zu wagen, buchstäblich links liegen gelassen haben. Die Schwierigkeit, Europa gemeinsam zu gestalten, gehe aber auch von den Ländern im Osten und Nordosten Europas aus, die „aus historisch verständlichen Gründen“ zwar am lautesten nach militärischer Stärke riefen, aber am wenigsten bereit seien, nationalen Gestaltungswillen abzugeben.

Dramatischer Widerspruch zu allgemeiner Wehrpflicht

Am Ende seines großen Textes zeigt sich nochmals die wunderbare Humanität des Philosophen, wenn er der Wiedereinführung einer allgemeinen Wehrpflicht dramatisch widerspricht: „Allerdings lockt die Aufrüstungswelle im Augenblick ganz andere Töne hervor. Und zwar stoßen in dieses Horn nicht nur die üblichen Verdächtigen, die den historisch längst überwundenen Nationalismus als eine zeitlose Tugend feiern, sondern auch die Politiker, die eine aus guten Gründen postheroische Jugend mit der Wiederbelebung der Wehrpflicht aufmöbeln wollen. Und das inmitten von Staaten, die aus guten Gründen fast alle die Wehrpflicht längst abgeschafft oder ausgesetzt haben. In dieser Abschaffung der Wehrpflicht spiegelt sich ein weltgeschichtlicher Lernprozess, nämlich die auf den Schlachtfeldern und in den Kellern des Zweiten Weltkrieges gewachsene Einsicht, dass diese mörderische Form der Gewaltausübung menschenunwürdig ist. (…) Mich erschreckt, von welchen Seiten die deutsche Regierung, die sich nun zu einer beispiellosen Aufrüstung des Landes anschickt, gedankenlos oder gar ausdrücklich mit dem Ziel der Wiederbelebung einer zu Recht überwunden geglaubten militärischen Mentalität unterstützt wird.“

Straubinger Tagblatt vom 24. März 2025