Diese Szene hat sich bis heute in unser Nachkriegsgedächtnis eingeprägt. Joseph Goebbels steht im Berliner Sportpalast vor einer durch seine Rede aufgeputschten Menge. Tausende sind gekommen, um dem Reichspropagandaminister an diesem kalten Februartag im Jahr 1943 zuzuhören und zuzujubeln. Und jetzt schreit er also in die fanatisierte Menge: „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ Keiner bleibt sitzen, alle wollen sie ihn, den totalen Krieg, und so schreien sie „Ja“ und strecken die rechte Hand zum Führergruß aus. Das ist einer der ganz großen Tiefpunktpunkte unserer deutschen Geschichte. Der Krieg ist in Wirklichkeit längst verloren – wer jetzt noch an die Front gerufen wird oder sich auch freiwillig meldet, wird kaum zurückkommen. Die Städte in Deutschland werden in den nächsten beiden Jahren von den Bomben der Gegner überzogen werden, ein Land ist ganz am Ende.
Schon längst am Ende ist alles, was wir heute an unserer Demokratie schätzen: Parteien, Meinungsvielfalt und vor allem die Pressefreiheit. Die Zeitungen sind längst gleichgeschaltet. Die Nazi-Diktatur bietet ihnen jeden Tag drei „braune“ Kommentare zur Auswahl an. Verleger und Redakteure, die den Wahnsinn nicht mitmachen wollten, sind kaltgestellt oder ins Ausland geflüchtet. Das freie Denken und das freie Schreiben mussten der „Reichspropaganda“ weichen, die Ton und Inhalt vorgibt.
Wo beginnen nach diesem Krieg? Wie neu anfangen? Die Alliierten geben den Weg vor und begleiten. Deutschland ist ein Patient, der das normale Laufen neu lernen muss. Aber schon wenige Jahre später, im Jahr 1949, geben die alliierten Siegermächte Verantwortung ab. Es sind die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“, die eine Verfassung schreiben, in der Menschen- und Grundrechte wieder neu Gestalt annehmen. Die die junge Demokratie in einen wunderbaren Text hüllen, der bis heute nichts von seiner Kraft und Bedeutung verloren hat. Und auch die Zeitungen finden ins Leben zurück. Die Alliierten geben neuen Verlegern, die nichts mit der NS-Zeit zu tun haben wollten und offenkundig eine Gegenposition bezogen hatten, eine Lizenz zum Schreiben und Drucken; und auch die sogenannten Alt-Verleger, die ihre Rechte und Möglichkeiten im Dritten Reich verloren hatten, dürfen allesamt seit 1949 wieder mitmachen. Eine junge Demokratie entsteht: Mit Parteien und Zeitungen, die den öffentlichen Diskurs begleiten.
Aber wie schreiben? Man hat ja so vieles verlernt in den zwölf Jahren der brutalen Nazi-Diktatur. Oder noch einen Schritt weiter: Warum waren die Zeitungen in der Weimarer Republik nicht stark genug, aufzuklären und die Menschen in dieser ersten Demokratie auf deutschem Boden vor dem kommenden Irrsinn zu bewahren? In genau dieser Situation, vor exakt 75 Jahren, gründet der Herausgeber der Münchner Abendzeitung, Werner Friedmann, in München eine Schule: die „Deutsche Journalistenschule“. Um genau das zu lehren: die Rolle von gutem Journalismus in einer Demokratie. Was unterscheidet einen Kommentar von einem Bericht? Wie geht der Versuch von Objektivität in einer Welt, von der wir wissen, dass objektive Erkenntnis nicht möglich ist? Was heißt Überparteilichkeit in einer Demokratie, die doch die demokratischen Parteien schätzt und braucht? Über was darf berichtet werden und was muss vor dem Blick der Öffentlichkeit bewahrt bleiben? In kleinen Klassen werden hochkarätige Journalisten ausgebildet. Schon bald übersteigt die Zahl der Bewerber die Zahl der angebotenen Plätze um das Dreißigfache, so renommiert ist die Schule mit ihren guten und sehr guten Angeboten und Lehrern sehr schnell.
In dieser Woche feierte die Deutsche Journalistenschule also ihren 75. Geburtstag. Bei dieser Geschichte kein Wunder, dass alle gekommen sind, die Rang und Namen haben. Der Kanzler Olaf Scholz, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, aber auch viele Schüler, die ihre Laufbahn dieser Ausbildung verdanken. 2 000 Menschen versammeln sich im Münchner Prinzregententheater, um zu feiern. Darunter so prominente Ehemalige wie Sandra Maischberger oder Günter Jauch, der mittlerweile allerdings ins Quiz-Genre abgewandert ist. Aber dennoch: Dieses Fest ist in schwierigen Zeiten für seriöse Medien offensichtlich ein Fanal, ein sichtbares Zeichen, dass wir gute Medien brauchen: Die Intendantin des Bayerischen Rundfunks ist genauso gekommen wie der Herausgeber des Münchner Merkurs oder der Geschäftsführer der angesehenen Wochenzeitung „Die Zeit“, der extra aus Hamburg angereist ist. Und sie alle applaudieren laut der Erzählung vom guten Journalismus, die oben auf dem Rednerpult von allen Sprechern vorgetragen wird.
Der erste Redner ist Markus Söder. Er tut sich leicht. Söder ist ein großartiger und witziger Unterhalter. Er hat zwar einen Sprechzettel dabei, aber er agiert frei – wie ein guter Boxer im Ring, der seine Überlegenheit ausspielt. Erzählt Anekdoten aus dem eigenen Leben, aus seiner Zeit als jungem Journalisten, Erinnerungen an „Wetten, dass“, und die Warnung seiner Mutter, doch etwas Rechtes zu arbeiten, weil er doch gelernter Jurist sei – und nicht Journalist.
Immer wieder macht er Witze über den Kanzler, der unmittelbar vor ihm sitzt und dem er offenbar nicht dasselbe Repertoire an Witz und Unmittelbarkeit zutraut wie sich selbst. Wie reagiert der, wo er so angesprochen wird? Er sieht tatsächlich ein wenig so aus wie ein Schlumpf, mit dem er manchmal verglichen wird. Er behält ein undeutbares Lächeln auf den Lippen, das ihm gerade bei Söders witzigen Attacken nicht entgleitet. Jetzt geht er selber ans Rednerpult.
Nach dem stürmischen „Allegro“ des bayerischen Ministerpräsidenten jetzt also ein langsames „Adagio“ im zweiten Satz dieses Konzerts. Und Scholz fällt gegenüber dem gewinnenden Markus Söder nicht ab. Im Gegenteil: Er beschwört in seiner sehr ernsthaften, ruhig vorgetragenen Rede die klassischen Tugenden von gutem Journalismus. Er grenzt ihn ab von der Schnelllebigkeit des Netzes, von der Oberflächlichkeit von TikTok, das er zwar nutze, um mehr Menschen anzusprechen, aber doch: sein Herz gehöre den Zeitungen im gedruckten Format, mit denen er den Tag beginne, um ihn am Ende mit ihren virtuellen Ausgaben im Netz vor dem Schlafengehen dort auch zu beenden. Auch der Kanzler macht zwei Witze über Söder, die extrem trocken und so besonders lustig sind. Aber der Blick auf Söder verrät doch, dass es dem lieber ist, wenn er Witze über andere macht – und nicht die über ihn.
Mutig ist der Kanzler auch: Der versammelten Schar von Verlegern und Journalisten sagt er ganz unaufgeregt, dass die Menschen gerade im Ukraine-Krieg ihm im unmittelbaren Umgang ein anderes, sehr sorgenvolles Bild vom notwendigen politischen Handeln vermittelten, als das, was sich täglich in den Medien widerspiegele. Mehr Inhalte bräuchte es „statt Kampagnen, mehr Information statt Haltung“ mit Blick auf die täglich wiederkehrenden Talk-Shows, die nicht ausreichend seriös informierten. Das ist mutig in dieser großen Runde. Am Ende erhält der Kanzler einen langanhaltenden, sehr warmen Applaus, über den er sich sichtlich freut.
Was Söder und Scholz eint, ist das Bewusstsein, dass in der Welt des digitalen Netzes, in die sich jeder einschreiben kann, wie er will, die seriösen Medien notwendig sind wie nie zuvor. Die Bedrohung der Demokratie gehe heute eher von Desinformation aller Art aus, so stellten beide heraus, also nicht mehr wie im „Dritten Reich“ von einer Bande Verbrecher, die die Medien ganz bewusst ausschalten konnten.
Die große Geburtstagsfeier gelingt aber nicht nur wegen der beiden prominenten Redner. Sie gelingt vor allem auch deshalb, weil die Gala so großartig von einer Schülerin und einem Schüler der Journalistenschule moderiert wird – und auch andere Absolventen der Schule so klug und charmant zu Wort kommen. Und der Applaus der anderen, die hier lernen oder gelernt haben, zeigt die tiefe Verbundenheit der Gemeinschaft derer, die sich auf den Weg machten, um in diesem Land für guten Journalismus einzustehen. Was für ein Abend! Auf dem Heimweg überfällt mich der Gedanke, was gewesen wäre, wenn nicht Olaf Scholz, sondern Friedrich Merz dort oben gestanden wäre. Sorgen hat man am Ende halt immer!
Straubinger Tagblatt vom 7. Juni 2024