Wahrscheinlich wissen die meisten Menschen gar nicht, was ein Narrativ ist. Noch nicht einmal die, die vor vielen Jahren in der Schule Latein gelernt haben und sich erinnern, dass das lateinische „Narrare“ im Deutschen Erzählen heißt. Narrative sind also streng genommen Erzählungen; und darin liegt auch schon das Problem: In jeder Erzählung liegt immer auch eine Deutung. Menschen können gar nicht anders, als das, was sie erleben, zu deuten.
Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch schreibt in „Mein Name sei Gantenbein“ so: „Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht. Jetzt sucht er die Geschichte seiner Erfahrung. Man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt.“ Und weiter ganz radikal: „Jede Geschichte ist eine Erfindung, jedes Ich, das sich ausspricht, ist eine Rolle.“ Und so wissen wir: Alles Erzählen, das von der Vergangenheit spricht, kann gar nicht exakt wiedergeben, was wirklich geschah, weil das gar nicht geht. Das Geschehene unterliegt im Augenblick des Erzählens und des Erinnerns einer Verwandlung, es kann gar nicht anders, als in irgendeiner Weise gedeutet zu werden.
Narrative sind also immer auch subjektive Interpretationen, die wiederum bewussten Manipulationen oder auch unbeabsichtigten Fehldeutungen unterliegen können. So hat der Historiker Heinrich August Winkler darauf hingewiesen, dass das Narrativ vom Ersten Weltkrieg, von dem so häufig gesagt wird, man sei wie Schlafwandler in diesen Krieg „hineingeschlittert“, wie es die Geschichtslehrer in den Gymnasien es so gerne formulierten, schlicht falsch ist, auch wenn ein bekannter englischer Historiker in einem vielbeachteten Buch diese These nochmals aufnahm. Narrative müssen also immer ideologiekritisch befragt werden, damit am Ende mehr Wahrheit wird.
Das scheinbar allgemein gültige Narrativ vom Krieg in der Ukraine hat der Fernsehmoderator Markus Lanz so wunderbar naiv zusammengefaßt. Er sagte in seiner Sendung: „Hier gibt es ja nun wirklich nur schwarz und weiß…“ – keinen Graubereich also, keine Zwischentöne. Gemeint war, dass auf der einen Seite die überfallenen und also „guten“ Ukrainer stehen, auf der anderen Seite die „bösen“ Russen mit ihrem menschenverachtenden Staatschef Putin. Aus dieser Deutung heraus wird es dann für ihn und viele Andere sinnigerweise notwendig, den „Guten“ zu helfen, also Waffen zu liefern, damit am Ende die „Guten“ gegen die „Bösen“ gewinnen. Geistig enorm schlicht, aber gerade darum einfach und scheinbar logisch erzählt. Eine Verführung also.
Gegen eine solch schlichte Erzählung von gut und böse sind in einem gemeinsamen Buch jetzt der Soziologe Harald Welzer und der Fernsehphilosoph Richard David Precht aufgestanden. „Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“, so provokativ haben sie ihr gemeinsames Buch betitelt, das vor ein paar Tagen neu auf den Markt kam. Im Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ sagt Precht: Es gibt in den Medien „eine dramatische Überzahl jener, die für Waffenlieferungen sind. Es hat meines Wissens seit Kriegsbeginn eine einzige deutsche Talkshow gegeben, in der Befürworter von Waffenlieferungen und Zweifler daran gleichmäßig besetzt waren. Wenn ein Gegner von Waffenlieferungen eingeladen ist, hat er drei, vier Befürworter gegen sich.“
Und Harald Welzer beklagt im selben Gespräch: „Die zentralen Probleme, um die es uns geht, sind eine extrem personalisierte Berichterstattung, eine wachsende Erregungskultur und die große Einhelligkeit der veröffentlichten Meinung. Viele dieser Tendenzen erklären sich durch wachsenden moralischen Rigorismus und den Einfluss der, wie wir das im Buch nennen, „Direktmedien“, sogenannter sozialer Netzwerke wie Twitter.“
Wir wissen: Menschen wollen einfache Lösungen. Mehrdimensionalität und Komplexität von Ereignissen und Themen sind anstrengend, sollen also am besten vermieden bleiben. Klar zwischen gut und böse zu unterscheiden entlastet zudem das eigene Gewissen, wo man sich doch so bequem auf die Seite der Guten schlagen kann. Im Ukraine-Krieg gibt es allerdings ganz viele Narrative, die es kritisch zu befragen gilt.
Das Erste: Immer wieder wird von den Politikern der Ukraine gesagt, dass sie unsere (europäischen) Werte verteidigen. Aber stimmt das denn? Ein Sohn, der im Ausland lebt, besucht seinen alten Vater in der Ukraine. Er wird vom Militär zwangsverpflichtet und an die Front geschickt. Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, sagt in die Kameras der Welt, dass es ihm eine Ehre sei, für sein Vaterland zu sterben. Schwer verletzte ukrainische Soldaten, die in deutschen Krankenhäusern von Ärzten gesund gepflegt werden, fragen aufgeregt, wann sie wieder an die Front können. Sind das unsere Werte? Wird hier nicht vielmehr von den ukrainischen Politikern eine Identifikation mit uns hergestellt, die so nicht stimmt und die primär dazu dienen soll, dass wir sie mit immer mehr Waffen unterstützen.
Elitesoldaten der Ukraine, von Journalisten begleitet, sagen: „Was fühle ich, wenn ich einen Russen töte? Den Rückstoß meiner Kalaschnikow!“ Sind wir so? Im Ersten Weltkrieg lagen sich die von ihren Regierungen missbrauchten Soldaten aus Deutschland und Frankreich in den Schützengräben von Verdun gegenüber. An Weihnachten schwiegen die Waffen und die Soldaten sangen gemeinsam Weihnachtslieder, obwohl es verboten war. In der Ukraine schicken die Männer die Frauen weg und wollen kämpfen. Kompromisslos, der Gewalt ganz ergeben. Sind wir so?
Das Zweite: Die Ukraine sei nur der Anfang. Danach ginge es weiter. Mit Estland, oder Polen, am Ende mit uns. Wirklich? Putin hat seine wahnsinnige Philosophie in seinem Denken auf die Einheit von Belarus, Ukraine und Russland gerichtet. Davon spricht er in seinem wahnsinnigen Größenrausch. Ein Land aus dem NATO-Verbund anzugreifen, einen Weltkrieg buchstäblich anzuzetteln, ist das wirklich wahrscheinlich und so zwangsläufig, wie es immer wieder dargestellt wird?
Das Dritte: Militärische Erfolge der Ukraine werden von Medienleuten und Politikern im Westen als Vorboten einer Kriegswende zugunsten der Ukraine regelrecht bejubelt. Führen sie aber nicht vielmehr zu einer weiteren Eskalation des Krieges, wenn unmittelbar danach 300 000 russische Soldaten einberufen werden? Müssen wir nicht eine solche Eskalation des Krieges bedauern, weil auch die russischen Männer Kinder und Mütter haben, die weinend ihr Schicksal beklagen? Beweist nicht genau diese militärische Eskalation die Sinnlosigkeit der militärischen Lösungsversuche des Krieges, die wir unterstützen?
Das Vierte: Die politische Haltung der Regierung in Kiew ist in schrecklicher Weise kompromisslos. Michailo Podoljak, engster Berater des ukrainischen Präsidenten, sagt, er wolle alle Territorien der Ukraine zurück. Sonst gäbe es keinen Frieden. Wörtlich: Saporischschja, Cherson, Luhansk, Donezk sowie die besetzte Halbinsel Krim.“ Ein illusionäres Ziel, das jede Diplomatie, alle politischen Lösungen von vorneherein verhindert. Er fordert zudem, dass Deutschland jetzt eine militärische Führungsrolle einnehmen solle. „Dazu gehören in erster Linie Raketenwerfer und deutsche Panzer. Deutschland verfügt in großem Umfang über schwere gepanzerte Fahrzeuge sowie über Leopard- und Marder-Panzer. Die brauchen wir…“ So in einem großen Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“. Am Ende eines von der Ukraine gewonnenen Krieges stünde dann eine neue „gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur“, in der die „Ukraine eine zentrale Rolle“ spiele. Wollen wir im Ernst denk- und machbare politische Lösungen durch Märchen ersetzen? Ist es nicht Zeit, sich hier auch im eigenen Sprechen von solchen radikalen Positionen zu distanzieren und realistische politische Lösungen auch von Kiew einzufordern. Die Ukraine nimmt uns in einer Art und Weise in ihren Konflikt hinein, macht ihre Sache zu unserer Sache, der wir widersprechen müssen. Wir müssen, wir dürfen die Ukraine nicht bedingungslos unterstützen.
Das Fünfte: Immer wieder wird gesagt, dass die Ukraine alleine entscheide, wann und zu welchen Bedingungen sie zu einem Friedensschluß bereit sei. Wirklich? Hat uns dieses Land nicht längst so sehr in sein Schicksal hineingenommen, dass wir nicht doch ein Recht darauf haben, auch selbst Forderungen an die Ukraine zu stellen?
Zum Schluss: Immer wieder haben kluge Politiker, Philosophen, Intellektuelle darauf hingewiesen, dass es für die Situation in der Ukraine am Ende keine militärische Lösung geben wird: Der Philosoph Jürgen Habermas mit seinem glänzenden Artikel in der Süddeutschen Zeitung, die kluge Alice Schwarzer im bekannten Brief mit ihren MitstreiterInnen, der ehemalige Hamburger Oberbürgermeister Klaus von Dohnanyi, aber auch viele ehemalige Generäle und Offiziere der Bundeswehr, die sagen, dass dieser Krieg für die Ukraine verheerend bleibt und es politisch-diplomatische Lösungen brauche.
Diese Einwände werden zwar in den Medien gebracht, sie spielen aber gegenüber dem allseits praktizierten und eingeübten Narrativ von gut und böse kaum eine Rolle. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir wenigstens anfangen würden, darüber nachzudenken, ob uns selbst unsere grenzenlose Identifikation mit der Ukraine und ihrer kompromisslosen Haltung gut tut!
Straubinger Tagblatt vom 1. Oktober 2022