Das habe ich vor Jahren wirklich erlebt: eingeladen von einem Aufsichtsratsmitglied zu Gast bei Audi in Ingolstadt. Voller Stolz führt mich der hochdekorierte Wirtschaftsboss durch die Produktionsstätten, am Ende sagt er: „Wissen Sie, es geht uns blendend, auch bei VW in Wolfsburg. Aber das dürfen wir natürlich zurzeit nicht zeigen, denn wir wollen ja weiter Staatshilfen, Subventionen, jetzt in der Wirtschaftskrise. Es gibt also auch keine neuen Fußballspieler für den VfL Wolfsburg, das dürfen wir jetzt nicht machen, obwohl wir auf einem Riesenvermögen sitzen.“
War es jetzt in der Corona-Krise so ganz anders? Die Autoindustrie hat um noch mehr Hilfe gebeten, als der Staat von sich aus anbot. Obwohl das nicht kam, waren die Quartalsergebnisse gut, manchmal sehr gut. Man gab sich überrascht. Wer will das glauben?
Wer mit Politikern spricht, der spürt ihre Angst, dass gerade die Autoindustrie mit all den Zulieferbetrieben wegbricht, gerade auch in der CSU. Und diese Angst wird von den Bossen und Lobbyisten der Autoindustrie weidlich ausgenutzt.
Unvergesslich auch der Vortrag des damaligen Daimler-Chefs Dieter Zetsche vor den versammelten Verlegern aus ganz Deutschland in Stuttgart bei deren Jahrestreffen vor ein paar Jahren. Mobilität der Zukunft war sein Thema, erzählt hat er nur von den neuesten Sportwagen und dem Formel-1-Engagement seiner Firma.
Die Stimme der Wirtschaft. Jetzt im Wahlkampf meldet sie sich zu Wort: Eine reine Verbotspartei seien die Grünen, mit denen werde die Wirtschaft in jedem Fall ruiniert. Der Industriestandort Deutschland würde Schaden nehmen, so tönt es im großen Chor.
Aber wie glaubwürdig ist denn die Stimme der Wirtschaft? Die Stimme der Deutschen Bank, die im vollen Wissen um die faulen Immobilienpakete der Amerikaner exakt diese Papiere an ihre Kunden verkaufte. Die andere große Bank, die Commerzbank, die alle zwei Jahre neues Personal an der Spitze braucht, weil man vor lauter Geschäftstüchtigkeit längst den Boden unter den Füßen verloren hat und weder Kunden noch Geschäftsmodell hat. Die Lobbyisten der Pharmabranche, die rücksichtslos ihre Milliardengeschäfte machen, um selber immer gesünder zu werden. Der Vorstand des Bayer-Konzerns, der in Großmannssucht den Problembären Monsanto kaufte und froh sein muss, wenn er mit zwei blauen Augen heil aus dieser Veranstaltung herauskommt.
Die Stimme der Wirtschaft, wie glaubwürdig ist die, wenn es dort so viele schwarze Schafe gibt, die immer nur für den eigenen Geldbeutel entschieden haben? Von Wirecard bis zu den Cum-Ex-Geschäften, die auch von deutschen Banken so gerne gemacht wurden. Die Stimme der Wirtschaft!
Natürlich – es gibt auch andere, gerade im Mittelstand. Und es muss Zweifel geben an einer Kanzlerkandidatin, die es glaubt nötig zu haben, ihren Lebenslauf aufzuhübschen, um mehr zu scheinen, als sie wirklich ist. Und manches, was die Grünen erzählen, ist reine Symbolpolitik, die niemandem hilft. Was wäre gewonnen, wenn Deutschland sich vorbildlich verhält bis in die Fußnoten hinein, aber alle anderen, selbst in Europa, halten sich nur an den eigenen Vorteil? Zu viel Idealismus hat noch nie gutgetan. Und dann fehlt ja wirklich die Erfahrung des Regierens. Mit dem, was Jürgen Trittin und Joschka Fischer vor Jahren gelernt haben, kann man heute keinen Staat mehr machen. Auch wenn die beiden die Welt immer noch so gerne belehren.
Aber dennoch: Muss das denn sein, dass jetzt im Wahlkampf von den arrivierten Parteien vor lauter Angst um das eigene Stimmenlager das Mittel der Denunziation des politischen Gegners gewählt wird? Weil so viele Menschen in Deutschland die Sehnsucht nach einem tief greifenden Perspektiven- und Paradigmenwechsel haben, nach einer anderen Welt, die nach besseren Regeln läuft, muss es da sein, dass allein deshalb der Idealismus der Grünen unter Generalverdacht gestellt wird? „Hauptgegner sind die Grünen“, so heißt es in den Wahlkampfzentralen der anderen Parteien unisono. Und die Generalsekretäre der anderen Parteien fallen über die her, als wären sie nicht politische Gegner, sondern Feinde!
Der hoch angesehene Politikberater Horst Teltschik, der Helmut Kohl so gut beriet, hat einmal im kleinen Kreis gesagt, dass er es ganz schlimm finde, dass jede neue Bundesregierung meine, das Rad neu erfinden zu müssen. Dass man in purer Abgrenzung zum politischen Gegner positive Elemente nicht aufgreife und viel zu wenig in eine gute Kontinuität auch bei Regierungswechseln komme. Da ginge viel Qualität verloren.
Wer in der nächsten Bundesregierung sitzt, weiß heute keiner. Und deshalb sollte Wahlkampf ein fairer Wettstreit der Ideen sein, an dessen Ende man sich an einen gemeinsamen Tisch setzt, um für die nächsten vier Jahre den Menschen in diesem Land gemeinsam zu dienen. Das sollten sich die Politikprofis aller Parteien vor Augen halten, wenn sie ihre Keulen der Abwertung des politischen Gegners auspacken.
Straubinger Tagblatt vom 10. Juni 2021