Auf der Suche nach Antworten – Gespräche über das Judentum heben die Notwendigkeit hervor, Antisemitismus zu bekämpfen und friedliche Lösungen im israelisch-palästinensischen Konflikt zu fördern. Eine Spurensuche.

Mein erster jüdischer Freund hieß Jonathan Greenberg und war Journalist. Jeden Mittwochmorgen schnitten wir im New York der späten 1980er Jahre um fünf Uhr früh Kartoffeln, Gelberüben und Gemüse für einen deftigen Eintopf, um fünf Stunden später den rund 400 vor allem schwarzen Menschen, die damals vollkommen verarmt auf der Straße standen und lebten, in einem Shelter für homeless people eine Mahlzeit für den Tag mitzugeben. Wir waren jung und wollten die Welt verändern. Jonathan liebte es, seine Freunde mit ausgeklügelten Fragen in schwierige politische Gespräche zu verwickeln. Und das um fünf Uhr morgens! Eines Tages, als wir über Wochen miteinander vertraut geworden waren, richtete ich eine Frage an den Freund: „Jonathan, was ist eigentlich ein Jude?“ Natürlich, ich wusste, Jesus war Jude und Franz Kafka – und was die Deutschen mit sechs Millionen Juden gemacht hatten, war mir mehr als bekannt. Aber was war es, das es mit den Juden auf sich hatte? Jonathan, der intellektuelle Freund, blickte mich ob meiner Frage ungläubig an – aber als er merkte, dass es mir mit meiner Frage ernst war, antwortete er laut lachend auf Englisch: „Oh, Martin, eine Menge Regeln und Vorschriften!“

Jahre später würde ich für das Bayerische Fernsehen immer wieder den Dialog der Religionen zwischen Christen, Juden und Muslimen moderieren. Vertrauter werden mit der Tora oder den Weisheitslehren des Talmud, aber vor meinem inneren Auge stand mir immer mein Freund Jonathan gegenüber, mit dem ich in jungen Jahren über Monate Kartoffeln und Gemüse kleinschnitt.

Szenenwechsel: Ich lerne Jahre später einen alten Psychotherapeuten kennen. Jüdische Lehrer haben ihn ausgebildet. Vor allem aber hat er Überlebende des Holocaust betreut. Viele, über Jahre. Deren seelische Hauptlast: Warum habe ich überlebt – und all die anderen mussten sterben? Für einen jungen Menschen ist das schwer begreiflich, dass man am eigenen Überleben zweifelt. Fast verzweifelt. Wenn man älter wird, versteht man das besser.

Den fragte ich dieselbe Frage, die ich Jahre vorher an Jonathan gerichtet hatte, nochmals. Und er meinte, wenn dort etwas anders wäre, dann nur das, dass viele Juden tiefer und intensiver seien als so viele Durchschnittsmenschen in unserer seelenlosen Wohlstandsgesellschaft. Den klugen jüdischen Intellektuellen Ben-Chorin habe ich in derselben Zeit selber kennengelernt. Nicht den berühmten Vater Schalom, sondern seinen witzigen und kaum weniger begabten Sohn Tovia Ben-Chorin. Das war eine schwierige Fernsehsendung: Dialog der Religionen – ausgestrahlt sollte das damals werden in drei Teilen, aber das Publikum im Saal nicht merken, dass der Moderator alle 20 Minuten eine Pause machte, damit im Fernsehen wieder eine neue Aufzeichnung beginnen könnte. Fast wär’s gelungen, aber Ben-Chorin machte es mir mehr als schwer. Immer wieder redete er unaufgefordert dazwischen. Alles, was er sagte, war gut und klug, aber den Sendungsleitfaden des geplagten Moderators zerstörte er vollkommen.

Nach der Sendung laufe ich kurz zu ihm, um ihn sanft darauf hinzuweisen, dass er mein Konzept vollkommen zerstört habe: „Lieber Ben-Chorin, Sie haben mit ihrem Mangel an Disziplin fast meine komplette Sendung über den Haufen geworfen“, sage ich freundlich lachend zu ihm. „Aber ich bin Ihnen nicht böse“, setze ich hinzu. Erstaunt wandte sich der weise Mann mir zu und meinte mit gespieltem Ernst: „Oh, ich bin Ihnen nicht böse!“ Das also war der jüdische Humor, von dem allenthalben so viel gesprochen wurde.

Was wissen heute die, die als Antisemiten hier bei uns ihre Parolen herausschreien, über das Leben und den Glauben der Juden wirklich? Würde man sie in ein Gespräch verwickeln können, so würde sich schnell zeigen: Nichts! Genauso gut könnten viele von ihnen gegen Homosexuelle, Menschen mit schwarzer Hautfarbe, Kommunisten oder den Mann im Mond ihren Hass herausschreien.

Wer die Zeitungen in diesen Tagen liest, der kann nicht anders, als dieses intellektuelle und liebenswürdige Judentum wahrzunehmen. Der geniale Musiker Daniel Barenboim, der seit Jahrzehnten für die Verständigung zwischen Israel und seinen Nachbarländern wirbt und das „West-Eastern Divan Orchestra“ gegründet hat, das sich jeweils zur Hälfte aus arabischen und israelischen Musikern zusammensetzt, sagt eine Woche nach den verheerenden Terroranschlägen der Hamas in einem beeindruckenden Zeitungstext in der Süddeutschen Zeitung: „Ergeben wir uns nun dieser furchtbaren Gewalt und lassen wir unser Streben nach Frieden sterben – oder beharren wir weiter darauf, dass es Frieden geben muss und geben kann?“ Und er fügt hinzu: „Es gibt Menschen auf beiden Seiten, Menschlichkeit ist universell, und die Anerkennung dieser Wahrheit auf beiden Seiten ist der einzige Weg. Das Leiden unschuldiger Menschen auf egal welcher Seite ist absolut unerträglich.“ Sein abschließender Befund: „Der israelisch-palästinensische Konflikt ist kein politischer Konflikt, zwischen zwei Staaten über Grenzen, Wasser, Öl oder andere Ressourcen. Es ist ein zutiefst menschlicher Konflikt zwischen zwei Völkern, die Leid und Verfolgung kennen.“ Eine solche Perspektive eine Woche nach den brutalen Morden in Israel zeugt von unglaublicher Größe.

Aber Barenboim ist mit diesem Denken nicht allein. Schon unmittelbar nach den Anschlägen meinte ein deutsch-israelischer Staatsbürger im Fernsehinterview: „Natürlich müssen wir uns wehren. Aber mir tut leid, was jetzt im Gaza-Streifen mit der Zivilbevölkerung passieren wird. Man ist ja auch Mensch.“ Bei vielen Jüdinnen und Juden gibt es offenkundig unendliches Mitleid mit den Menschen im Gaza-Streifen, die von der Hamas buchstäblich als Geiseln benutzt werden. Ein Palästinenser hält seine nach den ersten Bombardements getötete kleine Tochter in die Kameras, die auf ihn gerichtet sind und schreit: „Aber wir können doch nichts dazu!“ Für ihn und andere ergreifen Barenboim und viele andere Intellektuelle und Künstler in Israel Partei.

Noch einen Schritt weiter: Die bekannte Schriftstellerin Zeruya Shalev schreibt in einem großen Text in der Wochenzeitung „Die Zeit“ von ihrer „Wut auf den israelischen Ministerpräsidenten, der mein Land verriet.“ Über ihren Ministerpräsidenten Netanjahu, der eine ganze Justizreform in Gang setzte, nur damit seine eigenen Missetaten straflos bleiben würden, urteilt sie: „Wir, die liberale Öffentlichkeit, die seit neun Monaten gegen die sogenannte Justizreform auf die Straße geht, haben immer davor gewarnt, dass dieser Ministerpräsident den Staat schwächt, dass unsere Widersacher diese Schwäche erkennen und zuschlagen werden. Das wurde auf den Demonstrationen gesagt, das wurde in Artikeln geschrieben, das stand in blutigen Buchstaben an der Wand.“ Am Ende ihres großartigen Textes meint sie: „Ich bete um ein rasches Ende dieses Krieges. Mögen auf beiden Seiten möglichst wenige Unschuldige leiden müssen. Ich bete darum, dass sich bei Kriegsende die einzige Teilung abzeichnet, die in dieser Region möglich ist, keine Teilung zwischen Arabern und Juden, sondern zwischen Moderaten und Extremisten, zwischen Pragmatikern und Fanatikern. Hoffentlich gelingt ein Zusammenschluss all derer, die das Leben wählen und deswegen einen Kompromiss anstreben.“

Vor wenigen Tagen ein Abend über Frieden in Landshut. Nach meinem Vortrag steht eine junge jüdische Frau vor mir und erzählt, dass heute ihr Bruder, Reservist der israelischen Armee, eingezogen worden sei. Dabei stehen ihr Tränen in den Augen. Wer solche Situationen erlebt, der kann nicht anders als spüren, dass es für Antisemitismus in unserer Gesellschaft keinen Platz geben darf! Und es wird auch klar, dass es eine Lösung mit primär militärischen Mitteln nicht geben kann. Mir tun die Soldaten Israels leid, die bei einer Bodenoffensive in fremdem Gebiet in Hinterhalt geraten und einen schrecklichen, einsamen Tod sterben müssen. Statt antisemitische Demonstrationen zu veranstalten, gehört unsere Teilnahme ihrem Schicksal. Ob aber Politiker, die solche primär gewaltsamen Lösungsstrategien verantworten, den richtigen Weg wählen, ist mir mehr als fraglich. Zumal dann, wenn sie die Situation, in der sich Israel jetzt befindet, entscheidend mitzuverantworten haben.

Straubinger Tagblatt vom 28. Oktober 2023