Zwei persönliche Erzählungen zeigen sehr gut einen Wesenszug von Angela Merkel, der für diese lange Zeit ihres Regierens, wie es jetzt in allen Zeitungen gewürdigt wurde, kennzeichnend ist. Ein CDU-Bundestagsabgeordneter aus Nordrhein-Westfalen erzählte mir, dass er einmal in einer internen Fraktionssitzung deutliche Kritik an Angela Merkels Politik geübt habe. Die Kritik sei von allen als sachlich fundiert und nicht persönlich kränkend erlebt worden. Weil einige Kollegen in der Fraktion aber die Medien über SMS bereits verständigt hätten, dass es in der Fraktion deutliche Kritik an der Regierungschefin gegeben habe, hätten vor der Tür am Ende der Sitzung bereits zahlreiche Mikrofone und Kamerateams gewartet, um ihn zu interviewen. Das habe er als treuer Parteisoldat verweigert, weil es ihm alleine um eine inhaltliche Kritik gegangen sei, aber nicht um persönliche Profilierung.
Der Abgeordnete hat sich also mehr als korrekt verhalten. Das Ende der Geschichte aber ist, dass die Kanzlerin ihn nach seiner Kritik knapp zwei Jahre lang keines Blickes mehr würdigte. Ganz genauso erging es dem Vorstand eines Dax-Konzerns. Er erhielt vom Kanzleramt eines Morgens einen Anruf, dass die Kanzlerin es nicht für opportun halte, wenn er eine Einladung zu Wirtschaftsgesprächen in St. Petersburg annehme. Nachdem der Vorstand aber die Sache ganz anders sah und sich vor allem seinem Unternehmen und nicht der Regierung verpflichtet fühlte, nahm er die Einladung dennoch an. „Danach wurde ich von Angela Merkel nie mehr zu einer Wirtschaftsreise ins Ausland mitgenommen – und die persönlichen Gespräche, die es vorher mindestens einmal im Jahr gegeben hatte, entfielen von da an für immer“, so sagte er mir Jahre später unter vier Augen.
Nachtragend ist sie die Kanzlerin, so erzählen es alle, die sie näher kennen. Und vor allem möchte sie niemals einen Fehler gemacht haben. Und zugeben schon gleich überhaupt nicht. Wie eine fehlerfreie Prinzessin möchte sie gesehen werden nach 14 Jahren Kanzlerschaft, einer neuen Rekordzeit, die sich jetzt also nochmals um zwei Jahre verlängern soll. Dabei wissen wir doch, dass es das Wichtigste im Leben ist, sich korrigieren zu lassen. Mit dem Philosophen Popper das Leben als einen Weg von Versuch und Irrtum zu beschreiten, auf dem man nur mühsam mit vielen Irrtümern sich aber dennoch der Wahrheit immer mehr annähert.
Am Anfang von Angela Merkels politischem Weg stand das Wahlkampfmanagement für ihre Partei nach der Wende vor knapp 30 Jahren. Sie sah, wie es ging. Sie verstand, wie man ein Rennen gewinnt. Nicht um Inhalte geht es beim Ringen um die Macht, sondern um den Sieg und dass man ihn erringt. Und sie verstand das Spiel und war darin erfolgreich. Warum also nicht für sich selber trommeln, statt für einen anderen? Auch ihre Abkehr von Helmut Kohl vor 20 Jahren in einem viel beachteten Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hatte inhaltlich wenig zu bieten. Er war bloß ein Signal, sich endlich vom schwach gewordenen Altkanzler abzuwenden. Weil sie es war, die die Chance zur persönlichen Profilierung als Erste wahrnahm, wurde auch sie es, der die Partei, die Kohls müde war, den roten Teppich auszurollen begann. Viel ist geschrieben worden über all die Männer, die damals noch glaubten, „Kohls Mädchen“ wieder loszuwerden. Aber sie war es, die all die Männer einen nach dem anderen entsorgte und sich selbst immer besser darzustellen verstand. Um manchen der Krieger aus diesen Tagen ist es beileibe nicht schade, dass er in der zweiten oder sogar dritten politischen Reihe verschwand oder sich eben ganz aus der Politik zurückzog. Aber was Merkel versäumte, war, neue und junge begabte Politikerinnen und Politiker zu fördern und als (fast) gleichberechtigte Partner an sich zu binden. Lieber umgab sie sich mit eher zweitklassigen Claqueuren, mit den Schavans oder von der Leyens dieser Welt. Heute hat die CDU kaum Führungspersonal in ihren Reihen, dem man zutrauen würde, einen Weg in die Zukunft zu finden, der Erfolg versprechend sein könnte. Die Partei erscheint als ausgezehrt, nicht nur, was die Personen angeht, sondern auch, wenn es um Inhalte geht.
Der Ausstieg aus der Kernenergie, nicht aus Überzeugung, sondern so ganz schnell im intuitiven Wissen, dass die Menschen nach Japans Atomkatastrophe jetzt Angst haben, sodass also Wahlen verloren gehen könnten. Und auch dort, wo Angela Merkel in Sonntagsreden von Frieden in Freiheit, von Menschen- und Grundrechten sprach, es hatte nie den Zauber dessen, der diese Dinge aus tiefstem Herzen liebt und sie so zur Sprache bringt, dass sie in ihrer wunderbaren Bedeutung faszinieren und lebendig werden. Stattdessen Rüstungsexporte auf Rekordniveau gerade auch in die Krisenländer der Welt und eine halbherzige Verurteilung von Saudi-Arabien, das in seiner türkischen Botschaft einen Regimekritiker töten und in seine Einzelteile zerlegen lässt.
Über das Jahr 2015 ist viel gesprochen worden. Natürlich war es ein Fehler, den Zuzug von mehr als einer Million Menschen unvorbereitet zuzulassen und erst dann in Brüssel nachzufragen, ob man eine europäische Lösung nicht doch finden könnte. Aber auch diesen Fehler konnte Merkel nie eingestehen, obwohl sie schnell alles tat, um ihn wenigstens halbwegs einzufangen. Am Ende stand der Teufelspakt mit Erdogan, den man jetzt also nicht mehr nur in der Nato braucht. Dann drei Reisen nach Afrika, um zu zeigen, dass man sich endlich für diesen Kontinent einsetzt, die aber am Ende buchstäblich im Sande verliefen. Dann wieder nichts. Vier lange Jahre kaum nennenswerte Ansätze in Afrika, sich entscheidend vor Ort einzusetzen und die Welt dort besser zu machen, damit die Flüchtlingsströme endlich weniger werden. Jetzt kommen neue Flüchtlinge und damit alte Probleme.
Auf Macrons flammendes Plädoyer für mehr Europa antwortete Angela Merkel nicht selbst, sondern ließ nach Verstreichen von viel zu viel Zeit die neue Parteivorsitzende antworten. Ein Regelbruch, der nicht zu akzeptieren ist. Und am Europawahlkampf nahm sie gleich überhaupt nicht mehr teil. Sie sei ja jetzt nicht mehr Parteichefin, so ließ sie verlauten, sondern nur mehr Kanzlerin, was soll sie sich auf den Wahlkampfplätzen der Welt die Hacken ablaufen, hat sie sich gedacht und sich auch so verhalten.
Es gibt nicht wenige, die sagen, die Welt werde sich nach Angela Merkel und der Stabilität, die es in ihren Jahren auch gegeben habe, noch zurücksehnen. Aber die andere Seite dieser Jahre sind die unendlichen Defizite dieser Kanzlerschaft. Ihr durchgängiges Mittelmaß, ein Regieren ohne eine Idee für das Land. Das ständige Lavieren, um ja die Macht zu erhalten. Faule Kompromisse, die nach allen Seiten dienen wollten, eine Politik ohne echte Ecken und Kanten. In zwei Jahren also ist es endlich vorbei. Natürlich – es kann auch immer noch schlimmer kommen!
Straubinger Tagblatt vom 24. Dezember 2019