Vor knapp zwei Jahren war ich eingeladen zu einem Abendessen mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Ein guter Freund von mir, ein bekannter Politikberater aus Bayern, hatte ein altes Schloss im Rheinland für einen Abend reserviert, um Meinungsmacher aus ganz Deutschland mit dem aufstrebenden Politiker bekannt zu machen. Nach kurzem Vorspiel ging es schnell zur Sache und Hendrik Wüst hielt seinen Vortrag zur politischen Situation in Deutschland. Der Vortrag war klug, differenziert und erkennbar wurde auch, dass der junge Mann aus Nordrhein-Westfalen schlicht ein feiner Kerl ist. Ein junger Familienvater, im Auftreten bescheiden, in der Sache kompetent. An meinem Tisch saßen die engsten Vertrauten und Berater des Ministerpräsidenten. Am Ende des Vortrags kam ich nicht umhin zu fragen: „Warum nehmt ihr denn den nicht zum Kanzlerkandidaten, der ist doch dem Merz um Längen überlegen?“ Die Antwort kam schnell und ohne Zögern: „Um Gottes willen, der Merz will das so unbedingt, wir müssen unseren Mann vor so einer Auseinandersetzung um die Kanzlerkandidatur schützen, sonst wird es blutig!“
Jetzt also ist es so weit: Der Kandidat soll in wenigen Tagen Kanzler werden. Gesagt wird allgemein, dass diese neue Koalition die letzte Chance für die Demokratie in diesem Lande sei. Wenn die nicht funktioniere, werde die AfD das Land in vier Jahren übernehmen und ruinieren. Hinzugefügt wird dem häufig: Deshalb bitte möglichst keine Kritik am neuen Kanzler! „Lasst den doch erst mal machen“, sagte vor Kurzem der Europapolitiker Ingo Friedrich in kleiner Runde. Gegenfrage: Würde man einen Arzt, der aus erkennbarem Mangel an Qualifikation nicht am offenen Herzen eines Patienten operieren sollte, dennoch dort arbeiten lassen, damit der Ruf des Krankenhauses in der Öffentlichkeit nicht leidet?
Friedrich Merz verfügt erkennbar nicht über die ausreichende Eignung, dieses Land in eine bessere Zukunft zu führen. Für alle Systeme, die heute nicht mehr ausreichend funktionieren – Krankheit, Pflege, Rente –, gibt es nicht annähernd unter einem Kanzler Merz eine politische Antwort. Das wird im Koalitionsvertrag buchstäblich ausgespart. Als die SPD am Ende der Koalitionsverhandlungen immerhin dann doch noch zur Sprache brachte, dass es in der Steuergesetzgebung Änderungen brauche, um diese Systeme besser zu finanzieren, reagierte Merz mit einem Tobsuchtsanfall. Soll das eine politische Antwort auf ein Problem sein? Dabei wäre die Lösung recht einfach: Wenn dort, wo aus viel Geld immer noch mehr Geld gemacht wird, besser und sinnvoller besteuert würde, könnte man zügig Unternehmen- und Einkommensteuern ein wenig nach unten korrigieren und so die Dynamik der Wirtschaft ankurbeln. Aber sich mit den ganz Reichen und deren Lobbyisten auseinanderzusetzen, dazu gehört eine Portion echter Mut und natürlich auch der Wille dazu! Die Cum-ex-Geschäfte, die dann eben tatsächlich über Jahre Betrug waren, sind doch nur die Spitze des Eisberges von dem, was in der Finanzwelt vor der Allgemeinheit jeden Tag neu verborgen wird und verborgen bleiben soll! Nirgendwo sonst in Europa ist der Vermögensunterschied zwischen Arm und Reich vergleichbar groß wie in Deutschland! Wer aber hier nicht den Hebel ansetzt, schadet dem Land. Denn die Frage der Demokratie ist mit der sozialen Frage untrennbar verbunden. Wo Bürgerinnen und Bürger zunehmend das Gefühl haben, dass es in diesem Land nicht mehr gerecht zugeht, wenden sie sich erbost von der Demokratie ab.
Nach seinem Ausstieg aus der Politik vor gut 15 Jahren arbeitete Friedrich Merz für die Vermögensverwaltung der ganz Reichen: Blackrock, wo aus Milliarden noch mehr Milliarden gemacht werden. Das ist an sich nicht ehrenrührig, aber als Prägung für eine Kanzlerschaft doch eher nachteilig! Das Leben in der abstrakten Blase der Finanzwelt führt sowieso schon weg von der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen, die im Alltag um ihre Chancen kämpfen. Wie stark erst muss das wirken, wenn man dort über Jahre eine Führungsrolle übernommen hat. In der Finanzwelt gibt es eine abstrakte Logik der Zahlen, die vom Leben weg- und in die Welt der abstrakten Börsenkurse hineinführt. Ein Bundeskanzler hat aber die gegenteilige Aufgabe, nah am Menschen und deren Problemen zu sein!
Aber das ist nicht das einzige Problem: Wie kann man den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, gegen den der Internationale Strafgerichtshof aus guten Gründen einen Haftbefehl ausgestellt hat, kurz nach der Bundestagswahl nach Deutschland einladen und ihm seine Straffreiheit hierzulande zusichern? Soll das ein sinnvolles Zeichen gegen Antisemitismus sein, wo Netanjahu im eigenen Land von einer Mehrheit der Bevölkerung längst gehasst wird? Oder auch das immer neue Thematisieren einer möglichen Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine: Es gibt gute Gründe für unser Land, das genau nicht zu tun! In einer abstrakten Logik der Gewalt und einer wechselseitigen Eskalationsstrategie mag das Sinn ergeben. Aber konkret und wirklich führt das zu mehr Gefahr für unser Land und zu noch mehr Gewalt in einem Krieg, der endlich beendet werden muss. Es fällt auf, dass Friedrich Merz auch hier nur abstrakt denken und handeln kann, was in dieser Einseitigkeit vom Leben und Lösungsstrategien in dieser Welt und für diese Welt wegführt.
Überhaupt die Motivation von Friedrich Merz, dieses hohe Amt zu übernehmen: Ehrgeiz, der Wille, seine Ausbootung einst durch Angela Merkel an der Spitze der Unionsfraktion wettzumachen – und das verbunden mit dem erkennbaren Mangel an echter Problemlösungskompetenz, wie sie in diesen schwierigen Zeiten verlangt wäre. Schnell wurde in den letzten Wochen doch erkennbar, wie sehr Merz die an ihn gestellten Anforderungen unterschätzt hat. Das löst heute aus guten Gründen bei vielen Menschen Angst und Sorge aus.
Und die Regierungsmannschaft von Friedrich Merz? Kommt jetzt wirklich auch noch Jens Spahn zurück? Soll das ein Gesicht für die Zukunft in diesem Land sein?
Fazit: Natürlich könnte man all diese Probleme beschweigen, in der Hoffnung, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der Stange der demokratischen Parteien bleiben. Aber die Menschen hierzulande sind doch nicht blöd! Sie erkennen, ob ein Joshua Kimmich eine gute oder schlechte Flanke schlägt, und sprechen darüber; und in der Politik ist das nicht viel anders. Bleibt nur die vage Hoffnung, dass es am Ende doch irgendwie gut ausgeht.
Straubinger Tagblatt vom 22. April 2025