Leitartikel: Ukraine-Krieg – Raus aus der Zeitschleife

Selten hat ein liebenswürdigerer Gast unseren Verlag besucht als Professor Ihor Zhaloba aus Kiew (siehe unten stehenden Artikel über das Gespräch mit Professor Zhaloba). Mit fast 60 Jahren hat er sich für zwei Jahre an die ukrainische Front gemeldet, um dort sein Land zu verteidigen. Seine Professur für Geschichte an den Nagel gehängt, um zu kämpfen. 300 Jahre Geschichte mit Russland, die für die Ukraine nicht gut waren, das ist sein Thema. Das könne man mit diesem Krieg endlich für immer auflösen.

Sein Stolz auf den Patriotismus und die Freiheitsliebe seiner Landsleute ist deutlich zu spüren. Wer mit Zhaloba spricht, versteht das Herz der Ukraine. Er erzählt von den gebrochenen Verträgen und Versprechen mit Russland, sodass kein Vertrauen mehr entstehen könne. Alles stehe im Kampf, im Krieg zur Diskussion, einen anderen Weg sehe er nicht und es gebe ihn auch nicht.

Auf die Frage, wie alles enden werde, hat er eine klare Antwort: „Wir werden gewinnen.“ Er erzählt von der Fähigkeit der ukrainischen Soldaten, jeden Tag neu Kriegstechnik besser zu verstehen – etwa beim Einsatz von Drohnen –, und von dem ungebrochenen Willen der ukrainischen Soldaten, das ganze Land zu befreien und die russische Armee zu besiegen.

Legt man neben das Selbstbild und das Selbstverständnis des liebenswürdigen Professors, das das Selbstbild einer ganzen Nation mehrheitlich symbolisiert, allerdings die Fernsehbilder, die in dieser Woche vom 20. Treffen der Unterstützergruppe in Ramstein in unsere Wohnzimmer übertragen wurden, so zeigt sich die ungeheure Differenz dieser beiden Wahrnehmungsmuster. In Ramstein wurde diese Woche erkennbar nur noch die äußere Fassade einer für den Westen glücklichen Wendung des Krieges aufrechterhalten. Der einladende US-Verteidigungsminister Lloyd Austin beschwor nur mehr rhetorisch die Unterstützung der Ukraine aus den USA und die europäischen Staaten können noch nicht einmal theoretisch die Menge Munition liefern, die von der Ukraine gebraucht würde.

Während Professor Zhaloba meint, dass nur ein Sieg der Ukraine andere europäische Staaten, darunter auch Deutschland, vor einem Angriff Russlands bewahren könnte, ist die Sichtweise gerade in Deutschland zudem bei einer Mehrheit der Bürger immer noch die, dass eine weitere Eskalation des Krieges mit westlicher Unterstützung die Kriegsgefahr bei uns im Land eher erhöht. Das ist offenkundig auch die Position von Kanzler Olaf Scholz (SPD), die sich kaum einer billigen Wahlkampfstrategie verdankt, sondern echte Überzeugung bleibt und die viele Menschen im Land teilen.

Wenn Papst Franziskus in genau dieser Phase des Krieges sagt: „Wenn man sieht, dass man besiegt ist, dass es nicht gut läuft, muss man den Mut haben, zu verhandeln. Verhandlungen sind niemals eine Kapitulation … Ich denke, dass derjenige stärker ist, der die Situation erkennt, der an das Volk denkt, der den Mut der weißen Flagge hat, zu verhandeln“ – dann nimmt er letztlich die Stimmung des Ramstein-Treffens in dieser Woche vorweg und sieht die Situation in der Ukraine glasklar. Natürlich hat er sich unglücklich ausgedrückt, aber die Botschaft war doch realistisch und menschenfreundlich. Sie bedeutet keine billige Unterwerfung der Ukraine unter Russland, sondern die Suche nach einem Ausweg aus der verfahrenen Situation. Den Papst deshalb so ordinär anzugehen, wie das viele auch hier bei uns getan haben, zeigt, dass heute noch nicht einmal die Autoritäten eines Papstes oder auch eines Dalai Lama geachtet werden, die ihr ganzes Leben dem Versuch, gut zu sein und gut zu handeln, verschrieben haben. Das ist bestürzend!

Das Argument von Professor Zhaloba, das gegen Verhandlungen spricht: Eine Feuerpause oder auch ein vorläufiger Frieden mit Gebietsabtretungen im Osten würden nur dazu dienen, dass Russland sich für ein paar Jahre sammle und stärke, um wieder von Neuem anzugreifen. Die Geschichte Russlands mit der Ukraine spreche für diese Prophezeiung. Das ist nachvollziehbar.

Aber diese Wendung der Dinge steht doch in den Sternen. Sie bleibt Prophezeiung. Die Zukunft lässt sich eben nicht prophezeien. Sie ist immer offen. Niemand hätte die Wiedervereinigung Deutschlands noch ein Jahr vorher erwartet oder auch, dass mit Michael Gorbatschow in Russland einmal ein Mann an der Spitze des Landes stehen würde, der für Frieden und Öffnung des Landes einsteht.

Heute gibt es den Krieg in der Ukraine in der Endlos-Zeitschleife des Bösen. Aus dieser Zeitschleife auszubrechen, erscheint als das Gebot der Stunde. Was dann passiert, steht natürlich auch in den Sternen. Aber es ist immerhin eine Chance auf neues Leben und auch auf eine unerwartete Wendung der Dinge. Die Hoffnung nicht aufzugeben, ist auch eine Christenpflicht!

Straubinger Tagblatt vom 23. März 2024

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Der kämpfende Professor

Ihor Zhaloda aus der Ukraine hat Geschichte an der Uni gelehrt – bis die Russen vor zwei Jahren sein Heimatland angegriffen haben. Dann ging er an die Front. Jetzt wirbt er im Westen für Unterstützung 

Ihor Zhaloba spricht leise und langsam. Er freue sich, wieder in Straubing zu sein und den Stadtplatz zu sehen, sagt er. 2018 war er schon einmal hier, bei einer Tagung der Paneuropa-Union, deren Präsident Zhaloba in der Ukraine ist. Vier Jahre später ist er wieder in Niederbayern. Es ist wie in einem anderen Leben.

Der Tag, der sein Leben verändert hat, war natürlich der 24. Februar 2022. Der Tag, als Russland die Ukraine angegriffen hat.

Zwei Tage vorher war der Geschichtsprofessor, der aus Czernowitz stammt und seit 2014 mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Kiew lebt, mit einem 30-Liter-Kanister zur Tankstelle gefahren. „Ich wusste, dass es zu einem Krieg kommt“, sagt er heute. „Ich habe damit gerechnet, dass ich dort eine Menge Menschen treffe. Aber ich war allein und schaute aus wie ein Verrückter.“Am nächsten Tag stand Zhaloba um 10 Uhr vormittags im Hörsaal. „Ich habe meinen Studenten gesagt: Morgen oder übermorgen kommt es zu einem Krieg.“

Aber keiner glaubte ihm. „Ich bin mir vorgekommen wie ein Rufer in der Wüste.“ Tags darauf standen die Autos in Schlangen vor den Tankstellen der ukrainischen Hauptstadt.

Und noch einen Tag später meldete sich Zhaloba freiwillig zum Militärdienst – im Alter von 58 Jahren. In der Sowjetzeit war er zum Artillerieoffizier ausgebildet worden. „Aber das letzte Mal, dass ich etwas mit Kanonen gemacht hatte, war im September 1985.“ Deshalb ließ er sich als einfacher Soldat bei den territorialen Verteidigungskräften einschreiben, der „kämpfenden Zivilgesellschaft“, wie Zhaloba es nennt. „Ich habe gedacht: Wir werden Kiew verteidigen und dann werden wir sehen.“

Am Ende wurden es für Zhaloba zwei Jahre, bis Anfang März, kurz nach seinem 60. Geburtstag. Vom Busfahrer über den Buchhalter und den Elektriker bis zum Flugzeugingenieur waren Männer mit ganz verschiedenen Lebensläufen in seiner Einheit – und eben Ihor Zhaloba, der Geschichtsprofessor, Leiter der ukrainisch-österreichischen Historikerkommission, der nach einem längeren Forschungsaufenthalt in Wien hervorragend Deutsch spricht und noch vor wenigen Jahren die Diplomatenausbildung des ukrainischen Außenministeriums geleitet hatte. „Von meiner Einheit war nur der erste Kommandeur ein Berufssoldat seit der Sowjetzeit. Alle anderen waren reine Zivilisten.“

Plötzlich kämpften sie zusammen an der Front, in Bachmut, in Awdijiwka, in Robotyne. Wobei: „Wir sagen nicht ,kämpfen‘. Wir sagen: ,Wir arbeiten.‘“Das Schlimmste, sagt Zhaloba, sei es, „wenn deine Kameraden ums Leben kommen“. Das musste er mehrmals miterleben.Und warum das alles? „Es ist unsere historische Aufgabe, den Teufelskreis mit Russland zu durchbrechen“, sagt Zhaloba.

Dafür wirbt er auch im Westen. Zweimal hat er seinen Fronturlaub genutzt, um in Deutschland und Österreich um Unterstützung für sein Land zu werben. Was Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj im Großen macht, tut Professor Ihor Zhaloba im Kleinen. So auch jetzt wieder.„Ich will nie zurück in die Sowjetunion“, sagt Zhaloba. Er habe es selbst miterlebt, wie es ist, seine Meinung nicht frei äußern zu dürfen, sein Leben nicht selbst in die Hand nehmen zu können.

Für den autoritär herrschenden russischen Präsidenten Wladimir Putin sei es gefährlich gewesen, dass sich in seiner Nachbarschaft ein demokratisches Land entwickelt habe, das frei über seine Zukunft bestimmt, erklärt Zhaloba. Die Russen hätten die Ukrainer immer als ihren nicht so gut erzogenen kleinen Bruder gesehen, als „Untermenschen“, die selbst nichts schaffen. Und plötzlich habe die Ukraine doch was geschafft: Mit jedem Jahr sei sie wirtschaftlich unabhängiger von Russland geworden.

Für viele Russen sei das nicht zu verstehen gewesen. Einen Satz hätten russische Soldaten immer wieder in eroberten Dörfern auf Schultafeln und an Häuserwände geschrieben: „Wer hat euch erlaubt, so gut zu leben?“ Die Ukraine sei ein Vorbild für die Opposition in Russland geworden, sagt Zhaloba. Deshalb führe Putin einen „Existenzkrieg“. „Putin will uns vernichten.“Zhaloba sieht nur eine Möglichkeit, den Krieg zu beenden: mit einer militärischen Niederlage Russlands. Dann könnte es in Russland zu einer Palastrevolution oder zu einem Aufstand kommen.

Für Verhandlungen fehle die Gegenseite. „Putin sagt: Es gibt kein ukrainisches Volk.“ Wie könne man mit so jemandem verhandeln? Wenn es doch Verhandlungen geben sollte, werde der Krieg bald wieder weitergehen. „Putin braucht jetzt diese Pause, deswegen unterstützt er diese Stimmen hier so stark.“

Die Russen hatten, sagt Zhaloba, als sie zu Beginn des Kriegs in den Kiewer Vorort Butscha kamen, schon die Liste, welche „Verräter“ sie umbringen sollen. „Jetzt stehe ich auch auf dieser Liste.“ Wenn die Ukraine verliere, komme „immer die Rache der Russen“.

Für ihn sei klar, sagt Zhaloba: „Entweder kämpfen wir jetzt für uns oder wir werden für Putin in Europa kämpfen.“ Denn der werde sich mit der Ukraine nicht zufriedengeben. Noch im Dezember 2021 habe Putin dem Westen ein Ultimatum gestellt, die Nato solle zu den Grenzen von 1997 zurück. „Man muss nur hören, was er sagt.“ Wenn die Ukraine verliere, „verliert der Westen“. Dazu werde es aber nicht kommen. „Wir gewinnen, Sie werden sehen. Das werden wir noch erleben.“

Autor: Markus Peherstorfer, Straubinger Tagblatt vom 23. März 2024