Jedes Mal, wenn die Landshuter Künstlerin Christine Rieck-Sonntag mit einem von mir geschriebenen Beitrag in der Zeitung zufrieden ist, sendet sie mir per Post eine wunderbare Serigrafie. Das ist eine Handzeichnung, die am Ende mit verschiedenen Farben versehen gedruckt wird.
Zu ihrer Kalligrafie, die sie jetzt kurz vor Weihnachten schickt, setzt sie ein zauberhaftes Gedicht mit dem Titel Radbruch hinzu:
Gebrochen/gesplittert verbeult/vom zu langen Fahren/auf schiefen Wegen das Rad?
Zerbrochen/verschlissen von/zu langem Zutraun/noch zu kitten/die Hoffnung?
Reparieren/die Nabe ein Griff/in die Speichen/und dann noch einmal?/ Was sonst.
Immer wieder also gelte es aufzustehen, so die Künstlerin. Das Rad, mit dem wir fahren, zerbreche immer wieder auf den unruhigen Straßen des Lebens; und wir haben auch zu lange vertraut, dass es schon gut gehen wird – bis es doch bricht. Aber am Ende kein Schaden: Ein Griff in die Speichen und wir fahren weiter. So dieses wunderbare Gedicht über die Hoffnung in uns, die nicht sterben darf.
Aber doch: Einwände drängen sich auf. Wie oft darf das Rad des Lebens brechen, dass einer noch aufsteht und nicht liegenbleibt in seiner Enttäuschung oder Erschöpfung. Die Beispiele sind Legion. Menschen, die zu viele Rückschläge erlitten haben und keine Hoffnung mehr in sich tragen. In ihren Augen steht es geschrieben. Die zu oft enttäuschten Hoffnungen haben sichtbare Spuren hinterlassen.
Aber auch da gilt es Widerspruch zuzulassen. Denn oft waren die Hoffnungen zu groß. Oder auch auf falsche Ziele gerichtet.
Überhaupt – aus den Schriften der vor wenigen Jahren verstorbenen, klugen Psychotherapeutin Joanna Danis wissen wir: Wer zweimal in derselben Art scheitert, hat in der Regel ein Muster in sich, in seinem Charakter, in seiner Persönlichkeit, das ihn – wenn er es nicht erkennt – immer wieder in derselben Weise scheitern lassen wird. Da gilt es dann innezuhalten, um zu verstehen, was mich scheitern lässt. Im Gespräch mit anderen wird es kenntlich – und man kann es ändern.
Aber noch einen Schritt weiter: Menschen leben nicht nur im Licht der Hoffnung, sondern auch in der dämonischen Anziehungskraft des Dunklen und Bösen. „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde,“ so formuliert es Friedrich Nietzsche in seiner vorgeblichen Gottlosigkeit.
Zwischen Abgrund und Hoffnung
Der Religionsphilosoph Eugen Biser beschreibt es im Blick auf Gott dennoch kaum anders: Der Mensch steht für ihn im Widerspruch „zweier gegenläufiger Grundbestrebungen: zu dem mit dem Gottesverhältnis des Geistes gegebenen Selbstsein und dem nicht minder verzweifelten Willen dagegen: in der Verweigerung des ihm zugesprochenen und dadurch auferlegten Selbst und dem Verlangen nach einer Existenz unter anderen, selbstgewählten Bedingungen.“ Sich selbst zu verlieren im Rausch oder auch im unendlichen Begehren, das sich noch nicht einmal erfüllt sehen will, das sind die Abgründe, an deren Ränder der Mensch genauso gestellt ist wie in das Licht der Hoffnung und des Aufblicks nach oben.
Dass der Hoffnung tatsächlich nur „ein enger Spielraum“ bleibe, schreibt der Philosoph Karl Jaspers. Der Mensch könne sich gar nicht aus der Ambivalenz und Bipolarität seiner Existenz erlösen, denn: „Hoffnung und Furcht gehören gleicherweise zum Dasein, weil im Dasein, was kommen wird, ungewiss ist.“ Und weiter: „Weil die Beruhigung in der Hoffnung nicht mehr wahr bleibt, wenn sie zur Sicherheit wird, ist die Kraft der Hoffnung die Kraft im Aushalten des in der Zeit uns verhängten Schwebezustandes. Wir müssen, was die Zukunft betrifft, auf Sicherheit des Wissens verzichten.“
Das macht viele Menschen buchstäblich verrückt: ihre Angst aus dem letzten Ungewissen ihres Lebens heraus. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat in seinem Text Die Krankheit zum Tode im Jahr 1849 bahnbrechend diese Lebenssituation des modernen Menschen von heute wahrgenommen und beschrieben. Die Unsicherheit seines Lebens in dieser Welt führe den Menschen entweder dahin, „verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen“ oder in die „Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein zu wollen“.
Also entweder Selbstvergessenheit in allen Formen des Jetzt, der rauschhaften Hingabe an die Welt und all ihre scheinbaren Freuden oder eben umgekehrt der Welt den Rücken zu kehren, sich nicht mehr für den Anderen zu öffnen, den Kopf in den Sand zu stecken, sein Talent zu vergraben, wie es das Gleichnis im Neuen Testament beschreiben würde.
Kierkegaard ist in Teilen ein glänzender Analytiker des Lebens; am Ende aber vor allem ein schlechter Ratgeber und ein schrecklicher Zeitgenosse in der Welt des Geistes. Denn seine Antwort auf die Verzweiflung des Menschen ist zum schlechten Schluss die, dass die Verzweiflung an seiner Existenz in dieser Welt so groß werden muss, dass er in schlimmster Verzweiflung – am besten am Ende seines Lebens – in den Glauben springt. Das ist Kierkegaards innerster Kern seiner schrecklichen Philosophie, die Theodor W. Adorno in seiner glänzenden Doktorarbeit über Sören Kierkegaard so wunderbar entlarvt hat.
Die Angst und die Verzweiflung darf in dieser Welt eben nicht das letzte und auch nicht das vorletzte Wort haben. Der Philosoph der Hoffnung, Ernst Bloch, schreibt so im Widerspruch zu einer Philosophie der Angst und der Verzweiflung: „Erwartung, Hoffnung, Intention auf noch ungewordene Möglichkeit: Das ist nicht nur ein Grundzug des menschlichen Bewusstseins, sondern, konkret berichtigt und erfasst, eine Grundbestimmung innerhalb der objektiven Wirklichkeit insgesamt.“
Schon Sigmund Freud hat neben die Angstträume, die den Schlafenden heimsuchen, die Welt seiner Wunschträume gestellt. Und Johann Wolfgang von Goethe schreibt, Sigmund Freud ein Jahrhundert vorher vorwegnehmend: „Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden. Was wir können und möchten, stellt sich unsere Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im Stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliches.“
Aber wie geht Hoffnung heute?
In einer Welt, die sich im Zeichen von Krieg, Aggression und Konfrontation immer weiter zu verdüstern scheint. Die zu Pessimismus regelrecht einlädt. Wenn der Andere Hoffnung, Gutes, Sehnsucht nach Zukunft, Vertrauen zerstört. Jeder Andere könnte mein Feind sein.
Das ist auch eine Quintessenz der Religionsphilosophie Eugen Bisers: In jedem Menschen gibt es für ihn die „geheime Befürchtung, dass sich der erwünschte Partner von heute über Nacht in einen gefährlichen Rivalen, wenn nicht gar in einen verhassten Feind verwandeln könne.“ Gelingendes Leben brauche dagegen das „Vertrauen in die Verlässlichkeit der Konstrukte, Verhältnisse und Menschen, die seine Lebenswelt ausmachen. Von ihnen fühlt er sich getragen, durch sie gesichert und in ihnen geborgen. Es ist das Vertrauen in ihre Konsistenz, Identität und Permanenz, das erschüttert würde, wenn sie sich als brüchiger erwiesen, als von ihnen angenommen werden darf.“
Gelingendes Leben braucht also am Ende eine soziale Welt, die nicht zutiefst feindselig werden darf. In Kriegen, in den Ungerechtigkeiten einer kapitalistischen Gesellschaft, die auf Kosten derer lebt, die um ihre Rechte betrogen sind, oder vor allem auch in Beziehungen, die am Schluss nicht tragen. Der Andere muss deshalb in einem guten Sinn der Andere werden, wo er es noch nicht ist.
Der, der sich böse verhält, ist selbst Leidtragender
Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber schreibt in diesem Sinn: „In seinem Sein bestätigt sein, will der Mensch durch Menschen werden und will im Sein des andern eine Gegenwart haben. Die menschliche Person bedarf der Bestätigung, weil der Mensch als Mensch ihrer bedarf.“ Wenn das so ist, dann ist aber der, der sich böse verhält, erst einmal sich selbst ein Feind. Er zerbricht erst einmal für sich selbst das Band zum Anderen. Er verlässt die Welt von Hoffnung und Vertrauen in das Gute erst einmal in seinem Selbstverhältnis. So ist er selbst an allererster Stelle der Leidtragende seines Verhaltens. In ihm allein stirbt die Hoffnung, die ihn tragen könnte und wollte.
In seinen bekannten vier Fragen bündelt Immanuel Kant die Frage nach dem Menschen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ Das zauberhafte Gedicht von Christine Rieck-Sonntag spricht nicht vom Inhalt der Hoffnung. Sondern davon, sie immer wieder aufzurichten, wo sie enttäuscht wurde. Sich nicht entmutigen zu lassen, auch wenn die Welt noch so bedrückend erscheint: „Reparieren die Nabe, ein Griff in die Speichen und dann noch einmal? Was sonst.“
Straubinger Tagblatt vom 23. Dezember 2023