Wenn ich von Zeit zu Zeit meine Studierenden frage, seit wann es denn Deutschland gebe, dann herrscht erst einmal eisiges Schweigen. Nach langen bangen Augenblicken die Antworten: seit 1 000 Jahren, seit hundert Jahren. Das stimmt alles irgendwie auch. Aber doch ist es erstaunlich, wie wenig exaktes Wissen über unser Land offenkundig präsent ist.
Die Sehnsucht der Deutschen, im frühen 19. Jahrhundert endlich Nation zu werden. Die Hoffnungen der Demokraten und Republikaner, die 1848 so bitter enttäuscht werden. Es bleiben die vielen kleinen oder auch großen Monarchien, rund 40 an der Zahl. Ein zersplittertes Land. Die Grenzen bestehen fort. Die Könige und Fürsten geben mehr Rechte, um selber mächtig zu bleiben. Enttäuschung bei vielen: Ein einig Deutschland gibt es nicht.
Das gründet gut 20 Jahre später Bismarck. Auch das von oben! Und die Monarchie bleibt weiter – für ganz Deutschland. Der König von Preußen wird Kaiser von Deutschland. 1871 sind die drei entscheidenden Kriege als Voraussetzung dieser Staatsgründung gewonnen. Vor allem auch gegen Frankreich. Kein wirklich gutes Vorzeichen für die Zukunft. Österreich bleibt draußen in dieser Geburtsstunde des Deutschen Reiches. Bayern dagegen ist mit dabei. Bis 1945 gab es genau 15 demokratische Jahre in diesem Land. Nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung durch die Nazis. Diese Weimarer Republik aber auszuhebeln war am Ende gar nicht so schwer für Adolf Hitler nach dieser Vorgeschichte im 19. Jahrhundert.
Und dann? Die Teilung Deutschlands. Für junge Menschen ist heute kaum mehr vorstellbar, dass es zwei deutsche Länder gab, die über Jahrzehnte an Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen teilnahmen. Die Rivalität dieser beiden deutschen Staaten. Das Fußballspiel bei der Weltmeisterschaft in München 1974, bei dem Westdeutschland gegen die DDR verlor. Wer heute 20 Jahre alt ist, kennt das bestenfalls aus seltenen Fernsehrückblicken. Das Leiden der Menschen auf beiden Seiten des Grenzzauns. Die ständige Angst vor einem Krieg zwischen West und Ost. Die erwartete Frontlinie? Die innerdeutsche Grenze!
Dann die Wiedervereinigung vor gut 30 Jahren? In diesem vereinten Deutschland ist man aufgewachsen, mit Berlin als Hauptstadt, die Bonner Republik ist vergessen. Bundeskanzler Helmut Kohl hat in kleiner Runde gerne erzählt, wie schwer es war, die anderen Länder in Europa davon zu überzeugen, dass von einem vereinten Deutschland keine neue Gefahr im Herzen Europas ausginge. In politischer Millimeterarbeit gelang es am Ende doch, die Widerstände in Frankreich und England auszuräumen. Hauptargument der Regierung Kohl: Von diesem Deutschland ist kein Rückfall in düsterste Zeiten zu erwarten.
Es bleibt demokratisch und arbeitet als Herzkammer in der Mitte Europas für genau die Zukunft dieses Europas, das so mit den USA oder China in einer Liga spielen kann. Der so oft beschworene deutsch-französische Motor. Unvergessen die Bilder, als Helmut Kohl und Francois Mitterand auf den Gräbern des Zweiten Weltkriegs Hand in Hand die langjährige Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland endgültig begraben. Im Sinne Europas!
Und Deutschland? Immer auf der Suche nach seiner Identität! Aber doch immer auch gebrochen. Nach dem Zweiten Weltkrieg die mühsame Rückkehr zur Demokratie. In den Gerichten sitzen häufig die Richter, die auch im Dritten Reich „Recht“ gesprochen hatten. Mit den Beamten ist es kaum anders. Oder auch in der Wirtschaft. Das Wirtschaftswunder! Mit dem zurückkehrenden Wohlstand werden die wichtigsten Fragen übergangen. Man will leben. Fragen und Antworten kommen erst 1968. Es folgen Auseinandersetzungen mit Gewalt, die bürgerliche Gesellschaft verabscheut die blutigen Anschläge auf ihre Moral mit Recht und aus gutem Grund. Europa als Chance, die eigene so vielfach gebrochene Geschichte hinter sich zu lassen.
Bei Weltmeisterschaften werden deutsche Fahnen geschwungen, schon das mutet irgendwie seltsam an. Angestrengte politische Diskussionen über den Begriff „Patriotismus“ finden sich schnell im Grenzbereich vermuteter nationaler Radikalität und sind deshalb besser zu meiden. Es bleibt – ein Vakuum.
Bei einem Gespräch mit dem Europapolitiker Manfred Weber landet man schnell bei den Interessen unserer „europäischen Nachbarn im Osten“, wie er immer sagt. Zu schnell! Estland, Lettland, Litauen, vor allem Polen. Immer noch traumatisiert von dem, was vor allem Russland oder eben die Sowjet-Union mit ihnen gemacht hat. Einiges Europa? Nicht wirklich! Die Erfahrungen der einzelnen Länder dominieren. Ihre Ängste, ihre Kultur, ihre Geschichte. Abgrenzungen innerhalb Europas? Kaum.
Politiker beschwören das gemeinsame Europa. Dabei ist die Welt Frankreichs oder Deutschlands eine andere als die Polens oder Ungarns. Gestritten wird zwar schon auf Regierungsebene und auch im Europäischen Parlament, um Subventionen oder Richtwerte der Umweltpolitik. Aber am Ende wird es von den Politikern beschworen, das einige und gemeinsame Europa, das alleine mitspielen könne auf der internationalen Bühne der Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen. Die Brüche und Differenzen werden allzu leicht unter den Teppich gekehrt.
Und von außen, von außerhalb Europas? Hoffnungen, Projektionen und Identifikationen. Die Flüchtlinge kommen in ihrer Sehnsucht über das Meer nach Europa und die Politiker der Ukraine bezeugen täglich, dass genau sie die europäischen Werte verteidigten und schon längst zu diesem vereinigten Europa gehörten. Absurd, aber viele glauben es.
Der Philosoph Jürgen Habermas warnt zwar, dass der Westen „berechtigte eigene Interessen“ habe, die es gegenüber diesen Projektionen aufrechtzuerhalten gelte, aber das wird in den Medien und in der Politik geflissentlich überhört. Gefordert und geliefert werden Panzer in die Ukraine und die Städte und Kommunen wissen nicht, wohin mit all den Flüchtlingen aus aller Herren Länder – und vor allem wie das alles bezahlen, wo sie doch am Ende mit ihren Sorgen und Nöten weitgehend alleine gelassen bleiben. Die Kassen leer. Rente, Krankheit, Betreuung für Kinder in diesem Land? Notdürftig. Die Mittelschicht? Vom Abstieg bedroht. Die Spaltung zwischen Arm und Reich? Viel zu groß!
Deutsches Interesse? Klingt schwierig. Die Interessen der Menschen in diesem Land! In Deutschland. Wer traut sich, das auszusprechen? Für unser Land und unser Interesse einzustehen? Sich auch abzugrenzen von den Wünschen anderer. Europa dagegen ist in aller Munde und dass es verteidigt werden muss gegen den Aggressor aus dem Osten. Und wir müssen liefern! Das ist die Moral, die heute zählt. Deutsches Interesse? Unser Interesse, hier in unserem Land? Ein mehr als schwieriges Wort! Vor allem nach unserer deutschen Geschichte. Kaum einer spricht darüber in den Parteien, die man wählen möchte. Nur: Die AfD gibt Antworten – und immer mehr Menschen hören hin und sind bereit, sie zu wählen!
Wo Bedürfnisse von Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr ausreichend abgeholt werden, gibt es immer jemand, der den Finger auf die Wunde legt. Dass diese Wunderheiler nur Verführer sind, die mit aller Kraft und Gewalt in ein Vakuum dringen? Das wissen die Politikwissenschaftler und die seriösen Medien. Aber in der digitalen Welt, wo viele so vieles glauben? 20 Prozent für die AfD, ein Irrsinn, keine politische Leistung von denen, sondern ein Versagen derer, die oft genug nur mehr um den heißen Brei herumreden. Oder auch herumschweigen!
Lösungsansatz? Selbstbesinnung! Ein Leitbild auch für unser Land. Nicht nur die Beschwörung Europas, das oft genug als Ausrede dient für das, was hier nicht stimmt. Eine Einordnung dessen, was wir in diesem Land wirklich leisten können und was nicht! Ein Heizungsgesetz, das die globale Umweltkatastrophe sinnvoll bekämpft, ist kein sozialer Lösungsansatz für die, die in den Zeitungsprospekten die Butterpreise der Supermärkte vergleichen, um Geld zu sparen. Und das sind nicht wenige! Dass die Abzüge auf das Gehalt aus Arbeit in der Mittelschicht bei fast 50 Prozent liegen, während das Geld, das die Vermögensverwalter für ihre Klienten mehren, mit nicht einmal 30 Prozent besteuert wird, ganz gleich wie viel einer hat, ist sozialer Sprengstoff, den politisch extremen Rändern aus gutem Grund Auftrieb gibt.
Es braucht eine neue Solidarität in diesem Land. Ein neues Miteinander. Dass „einer wie er, der gut verdiene, etwas mehr abgebe“, hat Bundeskanzler Olaf Scholz reinen Herzens im Wahlkampf versprochen. Nicht einmal das hat ihm die FDP in den Koalitionsverhandlungen durchgehen lassen. Geschweige denn einen weitergehenden sozialen Ausgleich zwischen Arm und Reich, der für dieses Land so eminent wichtig wäre. Am Ende sind es Personen, denen Menschen vertrauen oder eben auch nicht. Dass in der CDU/CSU rechtzeitig eine Diskussion begonnen hat, in der verstanden ist, dass Friedrich Merz dieses Land nicht in eine bessere Zukunft führen wird, ist ein Hoffnungsschimmer. Alternativen gibt es genug – sie muss eben nicht „Alternative für Deutschland“ heißen!
Straubinger Tagblatt vom 1. Juli 2023