Warum es immer noch Printmedien braucht in einer Zeit, in der das Digitale die vermeintliche Oberhand gewonnen hat und große Medienmacher hinter Profit statt hinter dem Produkt stehen.
Kaum ein Schriftsteller der Gegenwart ist so faszinierend wie Rainald Goetz. Sein Roman „Irre“ aus dem Jahr 1986 damals so spannend, dass man ihn kaum aus der Hand legen konnte, später weitere geniale Texte, dazwischen lange Phasen des Schweigens und der Zurückgezogenheit. Jetzt hielt der Büchner-Preisträger aus dem Jahr 2015 im Wissenschaftskolleg in Berlin eine Rede, die in Zeiten von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz bemerkenswert ist.
Es war eine einzige Lobrede auf das gedruckte Wort, vor allem auf Zeitungen und Zeitschriften. Es ist der Verleger Hubert Burda, der die Zeitenwende des Internets immer wieder mit einer ganz kurzen Formel auf den Begriff bringt: Er nennt das den „icon turn“ der Gesellschaft und der Medienwelt. Die Wendung also vom Wort zum Bild. Die Verführung durch das Bild, die Bildmächtigkeit, die fasziniert und anzieht. Aber sagen die Bilder die ganze Wahrheit? Rainald Goetz antwortet in seiner Rede: „Es gibt kein Bild, das kritisch ist, das das Gezeigte abwehrt, das Bild feiert, was es zeigt. Und der Stress, der davon ausgeht, wenn einem Bild irgendwelche Aussageabsichten zugewiesen werden in schriller Kollision mit dem Gesetz des Bildes, das sich dem verweigert, erzeugt im Betrachter ein Unbehagen, ein Antigefühl, ein Wegschauenwollen und sich Abwenden von dem Ding, das dieses Bild zeigt.“
Das Bild steht für sich. Es wendet sich an das Auge des Betrachters. Ein Text dagegen: „generiert Attraktivität“ durch den „intellektuellen Tumult“, den er auslöst. Eine Welt des Nachdenkens beginnt, ein Dafür- und Dagegenreden, jedes Wort, jeder Satz bewirke, so Goetz, im Leser auch den „Gegensinn“ dessen, was der Satz zuerst einmal bedeute. Ein Sprach- und Reflexionsraum entsteht. Eine Welt, die Teilnahme möglich macht. Ein Mitsprechen, ein Mitdenken, eine Qualität, die dem Bild alleine nicht zugänglich sei.
Seine Faszination durch das Medium Zeitung bringt der Schriftsteller so zur Sprache: „Es ist das Nichtgedruckte, das aus der Spannung zwischen den Bildern und dem sie umgebenden Kleingedruckten entsteht, was die rätselhafte, einfach nicht vergehende Faszination ausmacht, die von der realen Materialität von Gedrucktem ausgeht, am allermeisten, allerschönsten und alleralltäglichsten auf den Seiten der Tageszeitungen.“ Gerade die „Text-Bild-Wort-Mixtur“ erzeuge die „geheimnisvolle Art“ und „die Aura, die von dem Objekt Zeitungsseite ausgeht.“
Die andere Seite der Medaille: Mathias Döpfner, Chef des Axel-Springer-Verlags, hat gerade bekanntgegeben, dass er sein Unternehmen mittelfristig in eine rein digitale Zukunft führen wolle. Die Zukunft liegt für ihn in Amerika, nicht mehr in Deutschland – und eben auch nicht mehr im gedruckten Wort, sondern ausschließlich in der Welt des Internets. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen sich darauf gefasst machen, dass viele Stellen wegfallen, auch die Redaktion sei auf lange Sicht davon betroffen, jetzt gelte es erst einmal, die Rendite des Hauses um 100 Millionen Euro zu verbessern, die im Augenblick mit 750 Millionen Euro (!) viel zu schmal sei. Abgesehen davon, dass diese 100 Millionen sofort in der Kasse wären, wenn sich Döpfner und seine Führungsentourage mit den in der Branche üblichen Gehältern bescheiden würden, stellt sich die Frage: Hat Döpfner am Ende doch recht?
Was bewegt den Mann, der mit der „Bild“ jeden Tag knapp acht Millionen Lesende erreicht und so täglich immerhin gut eine Million an Zeitungen verkauft. Fachleute sagen, dass die Rentabilität einer Zeitung bei etwa 40 000 täglich verkauften Exemplaren beginnt, aber es gibt sogar Verleger, die mit der Hälfte davon gut über die Runden kommen. Was bewegt Döpfner? Sicher, wesentliche Funktionen der „Bild“ sind ins Netz gewandert: Die Sensationslust, das Marktschreierische, das Sich-Wenden an die niederen Triebe und Instinkte des Menschen. Das kann man heute alles 24 Stunden am Tag und in der Nacht im Netz befriedigen. Die Rendite bei Springer kommt schon jetzt vor allem aus digitalen Portalen im Job- oder Immobilienbereich.
Aber dennoch: Was ist die innerste Motivation des heute 60-jährigen Kaufmanns? Persönlicher Ehrgeiz? Sicher auch: In der Kaufmannssprache gibt es den wunderbaren Satz, dass einer „mit den ganz großen Hunden pieseln gehen will“. Also mit den Jeff Bezos oder Elon Musks dieser Welt. Das wird eine Rolle spielen. Entscheidend aber ist noch etwas anderes: In der Welt der Superreichen spielt das einzelne Lebensschicksal, der einzelne Arbeitsplatz keine Rolle. Von Thomas Middelhoff über Rene Benko bis zu den ganz großen Medienmogulen. Die anvertrauten Unternehmen sind eher abstrakte Verfügungsmasse derer, die damit spielen und selber dabei immer reicher werden wollen. Weder gibt es eine tiefe Liebe zum Produkt noch das Bedürfnis, die Mitarbeiter zu schützen.
Sagt Döpfners Kurs also etwas über die Zukunft der Zeitungen aus? Sicher nicht! Und es ist noch nicht einmal klar, ob die Strategie Döpfners, in Amerika, wo also für ihn das Gras grüner ist als hierzulande, aufgeht. Denn Politik und Wirtschaft in den USA sind mehr als sensibel, wenn Europäer meinen, dort die Welt erobern zu können. Ein klassisches Auswärtsspiel!
Auch das zweite scheinbar düstere Zeichen am Horizont, die vielen Entlassungen bei dem Verlag Gruner und Jahr, ist in ganz ähnlicher Weise zu bewerten. Nach der Fusion mit dem Fernsehunternehmen „RTL“ geht es einem ehrgeizigen Manager allein um die Rendite des Unternehmens. Rücksichten werden keine genommen. Manfred Bissinger, ehemals stellvertretender Chefredakteur beim Stern und später viel beachteter Herausgeber der Zeitung „Die Woche“, kommentiert den Vorgang auf der Medienseite der Süddeutschen Zeitung: „Letztlich ist der niemand einleuchtende Verkauf von Gruner + Jahr an den Tutti-Frutti-TV-Konzern-RTL … der letzte Versuch, noch einmal Geld aus dem Portfolio zu schlagen, das über Jahrzehnte Millionen nach Gütersloh ablieferte.“
Der vielfältige fein- und kleingewobene Teppich von Printmedien, der dieses Land durchzieht, hat mit den beschriebenen Vorgängen wenig zu tun. Die Welt des großen Geldes und der Manager hat mit der Welt vor allem der Regionalzeitungen wenig gemeinsam. Von der Norderney bis Oberstdorf haben die Verlage den Mix aus Print und Digital längst in differenzierter Form unternommen. Alle Zeitungen sind seit vielen Jahren integrierte Medienhäuser, die Ton, Bewegtbild, Text und die Welt des Internets als die tragenden vier Säulen der Unternehmen ziemlich perfekt bedienen. Dass diese miteinander korrelierten Geschäftsbereiche immer wieder neu justiert werden müssen, ist klar. Aber die sogenannte Transformation der Zeitungen in die postpostmoderne Zukunft ist längst erfolgt! Und die Tatsache, dass jetzt künstliche Intelligenz Texte täuschend echt nachahmen kann, nochmals ein Grund mehr, weshalb seriöse Medienunternehmen in Zukunft doppelt gefragt sein werden. Während die seelenlosen Manager dazu aufrufen, die Marktchancen künstlicher Intelligenz hierzulande auf keinen Fall zu versäumen, gibt es gute Gründe, diese digitale Intelligenz, die scheinbar menschenähnlich ist, äußerst ambivalent zu bewerten und ihre gesellschaftliche Funktion ganz kritisch zu hinterfragen. Am Ende wird sich auch hier zeigen, dass erfolgreiche Geschäftsmodelle und guter Journalismus zwei Paar Stiefel sind!
„Es ist ja eine vergehende Welt“, klagt der Schriftsteller Rainald Goetz in seiner Rede. „Wir sollen die Sachen online lesen, wir sollen die Wahl nicht mehr haben, wir sollen uns alle ausnahmslos an das Verschwinden von Papier und Druckerfarbe und Druckerschwärze gewöhnen, an das Nichtmehrdasein von diesen anfassbaren großen bunten Bildern, dem Unabänderlichen der einmal gedruckten Zeitungsseite.“ Aber es ist doch mehr eine Frage als eine Aussage. Und sie lässt sich beantworten: Das gedruckte Wort in Buch, Zeitschrift und Zeitung wird es auch morgen und übermorgen noch geben. Das Digitale allein macht nicht satt, es spricht die Möglichkeiten des Unbewussten und seiner Sehnsüchte, die den Menschen zuinnerst ausmachen, nicht ausreichend an. Das spüren die, die noch spüren können. Wer allerdings von der digitalen Welt so zugemauert ist, dass er sich selbst nicht mehr wirklich spüren, empfinden und wahrnehmen kann, für den ist es nicht einfach, in die Welt des Lesens zurückzukommen. Sagt ein Student nach dem Verlassen des Hörsaals zu mir: „Wissen Sie, ich war in den letzten Jahren so viel in der digitalen Welt unterwegs, dass ich jetzt beim Psychotherapeuten in Behandlung bin. Ich kann zwar noch fühlen, aber ich weiß nicht mehr, was es ist, das ich fühle. Das muss ich jetzt in den Stunden beim Therapeuten wieder neu lernen.“
Straubinger Tagblatt vom 17. März 2023