„Den weltweit bekanntesten lebenden deutschen Philosophen“ nennt diese Woche Kurt Kister, ehemaliger Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Jürgen Habermas, dem er gerade zwei Seiten im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung freigeräumt hat.
In der Tat: Jürgen Habermas beim Denken und Schreiben zuzuhören ist vergleichbar mit dem Fußballspiel eines Diego Maradona oder Lionel Messi. Die Brillanz und das intellektuelle Spielverständnis des fast 94 Jahre alten Philosophen, der mittlerweile zurückgezogen am Starnberger See lebt, fesseln den Leser und halten seine Aufmerksamkeit noch in den schwierigsten Texten gefangen. Nicht schwer zu verstehen allerdings ist sein „Plädoyer für Verhandlungen“ im Ukraine-Krieg. Das kennt man scheinbar schon, immerhin hat der Philosoph bereits im April vergangenen Jahres in eine vergleichbare Richtung argumentiert; aber doch: Einige Argumente sind neu und korrigieren den Diskurs, der oft genug in den altbekannten Mustern stecken geblieben ist.
Am bedeutsamsten ist, dass Habermas die immer wieder vorgebrachte These, dass alleine die Ukraine entscheide, wann für sie der Krieg zu Ende sei, korrigiert. Diese Treue-Beteuerung der westlichen Allianz solle zwar den Gegner, also Putin-Russland, entmutigen, aber für den Philosophen ist sie „inkonsistent und verschleiert Differenzen, die auf der Hand liegen. Vor allem kann sie uns selbst über die Notwendigkeit täuschen, eigene Initiativen für Verhandlungen zu ergreifen.“
Es sind drei Argumente, die Jürgen Habermas zu dieser These führen: Zum einen hätten die westlichen Regierungen „eigene legitime Interessen und eigene Verpflichtungen“. Das bedeutet nichts anderes, als dass ein deutscher Kanzler oder ein französischer Präsident das Wohl des eigenen Landes sehr wohl in den Vordergrund stellen dürfen und müssen.
Das Zweite: Europäische Politiker müssen einen weiteren „geopolitischen Umkreis“ berücksichtigen als nur die Lage in der Ukraine. Auf Deutsch: Es geht um die Situation in ganz Europa oder sogar auf der ganzen Welt.
Und zum Dritten: Es gibt für den Westen auch „eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; daher können sie auch die Verantwortung für die brutalen Folgen einer nur dank ihrer militärischen Unterstützung möglichen Verlängerung des Kampfgeschehens nicht auf die ukrainische Regierung abwälzen.“
Habermas nimmt ein wesentliches Argument auf, das vor wenigen Monaten bereits der Soziologe Harald Welzer in die Diskussion eingebracht hat: Je länger Kriege dauern, desto mehr verselbstständigt sich der Aspekt der Gewalt. Noch der scheinbar gerechteste Krieg verwandle sich dann weg vom „Mittel der Verteidigung gegen einen skrupellosen Angreifer“ hin zur „zermalmenden Gewalt“ an sich, „die so schnell wie möglich aufhören sollte.“ Noch einmal durchläuft Habermas in seinem Text den Bewusstseinsweg der europäischen Politik und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die nach den Erfahrungen von zwei grauenhaften Weltkriegen die Konsequenz gezogen hätten, dass „Kriege – dieser bis dahin selbstverständliche Modus der Austragung und Lösung internationaler Konflikte – mit den Maßstäben eines zivilisierten Zusammenlebens schlechthin unvereinbar sind.“ Damit aber widerspricht Habermas jeder Perspektive, die Zukunftsperspektiven im Osten Europas primär innerhalb militärischer Optionen und Lösungen diskutieren. Die Carlo Marsalas, Claudia Maiors oder Robin Alexanders, die allabendlich im Fernsehen in ihrem begrenzten Bewusstsein Schlachtverläufe kommentieren und eben immer innerhalb der Perspektive des Krieges verbleiben.
Am besten lässt sich dieser zivilisatorische Rückfall, den Habermas diagnostiziert, aus meiner Sicht an der Sprache des Militärhistorikers Sönke Neitzel belegen, der regelmäßig davon spricht, dass es „mehr Druck unter dem Kessel“ bräuchte oder auch, dass manche den Schuss noch immer nicht gehört hätten“. Einer solchen Remilitarisierung des Sprechens und des Denkens hält Habermas entgegen, dass jeder Krieg „das Symptom eines Rückfalls hinter den historischen Stand eines zivilisierten Umgangs der Mächte miteinander“ bedeute. Was schlägt der Philosoph Jürgen Habermas in seinem Text also vor?
Sicher nicht das passive Geschehen-Lassen von Gewalt, wie sie Putin an der Ukraine übt. Aber für ihn ist eine Formulierung, die den Sieg der Ukraine über Russland einfordert, nicht zulässig. Dass die „Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe“, lasse dagegen Bedeutungsspielräume offen, innerhalb derer Verhandlungen möglich würden. Dass die zunehmende Eigendynamik des noch aggressiver gewordenen Krieges „über die Schwelle zu einem dritten Weltkrieg hinaustreiben“ könne, macht es für ihn unerlässlich, dass mit Friedensverhandlungen begonnen werde. Heute wird oft gesagt, dass der Konflikt von beiden Seiten so angeheizt sei, dass eine politisch-diplomatische Lösung mittlerweile undenkbar sei. Dem widerspricht Habermas: „Beide Seiten wollten sich gegenseitig dadurch entmutigen, dass sie weitgesteckte und anscheinend unverrückbare Pflöcke einschlagen. Das sind keine vielversprechenden Voraussetzungen, aber auch keine aussichtslosen.“
Vor allem für die Ukraine seien Verhandlungen jetzt wichtig: Denn bei einem Fortschreiten des Krieges stelle sich im Westen nur die Alternative, „entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den Ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen.“ Das aber bedeutet eine dramatische Niederlage für Ukraine. Gerade auch eine positiv gestaltende Rolle der USA in einem Friedensprozess sei mit der Regierung Bidens erreichbar, was nach der Wahl in den USA dagegen geschehe, sei völlig offen: „Für die Regierung Biden tickt die Uhr.“ Und er fügt hinzu: „Ein haltbares Verhandlungsergebnis kann nicht ohne die USA in den Kontext von weitreichenden Vereinbarungen eingebettet werden. Daran sind beide kriegführenden Parteien interessiert.“
Kontrovers diskutiert wird in dieser Woche dagegen das „Manifest für Frieden“, das die Linke Sarah Wagenknecht und die Frauen-Aktivistin Alice Schwarzer auf den Weg gebracht haben. Vor allem Sarah Wagenknecht wird vorgeworfen, eigene politische Ambitionen mit dem Manifest zu verbinden. Das ist nicht ganz abwegig. So zeigt sich zwar in der Tatsache, dass schon knapp 500 000 Menschen dieses Manifest in kürzester Zeit unterschrieben haben, ein wachsendes gesellschaftliches Bewusstsein, dass Verhandlungen dringend notwendig sind; aber im Unterschied zu Habermas hochdifferenziertem Text ist dieses publikumswirksame Manifest doch auch mit Vorsicht zu genießen. So spricht der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil den beiden und auch den Unterzeichnern zwar ihre guten Motive nicht ab, distanziert sich aber doch deutlich von dem veröffentlichten Manifest.
Eindrucksvoll dagegen war in dieser Woche der nachdenkliche Auftritt des Rock-Musikers Marius Müller-Westernhagens in der Talk-Sendung von Sandra Maischberger. Der Musiker, der Putin mehrfach getroffen hat und mit Altkanzler Gerhard Schröder befreundet war, mahnt Gespräche an und klagt über die Einseitigkeit des medialen Diskurses. Interessanterweise nimmt er intuitiv einen Vorschlag auf, den der langjährige Politikberater Horst Teltschik immer wieder gemacht hat: Wenn schon der Ex-Kanzler Gerhard Schröder mit Putin befreundet sei, dann müsse man doch, so der Sänger, diesen Gesprächskanal – bei aller Kritik an dessen finanziellem Gebaren – nutzen, um Fortschritte zu erreichen. Es war schon imponierend, in welcher Klarheit und Differenziertheit ein Rockmusiker, der ja kein Politikexperte ist, die Situation in der Ukraine versteht, bewertet und sogar noch in einen globalen Kontext einordnet.
Insgesamt nehmen in der Gesellschaft die Stimmen zu, die einfordern, dass es jenseits militärischer Anstrengungen politisch-diplomatische Lösungen für den Ukraine-Konflikt geben muss. Gleichzeitig, so sagen es die Fachleute, stehen im Osten der Ukraine die schlimmsten und unmenschlichsten Kämpfe vor der Tür, die dieser Krieg bisher gesehen hat. Das Ganze also ein Wettlauf gegen die Zeit.
Straubinger Tagblatt vom 18. Februar 2023