„Mein Bauch gehört mir!“ Das war vor Jahrzehnten das Motto von Frauen, die auf die Straße gingen, um ein liberaleres Abtreibungsrecht einzufordern. Auf der anderen Seite stand der starke Staat, der mit einer rigiden Gesetzgebung die Nöte und Probleme von Frauen in Not nicht ausreichend in den Blick nahm.
Der Satz „Mein Bauch gehört mir“ ist sicher falsch. Ganz falsch. Jedes Leben steht in Beziehung mit anderem Leben. Aber dennoch war der Aufschrei verständlich. Nur so kam es dann zu einer besseren und menschlicheren Gesetzgebung in dieser Frage, die bis heute gilt.
Zwei Dinge aber sind interessant. Auf der einen Seite die Behauptung eines radikal individuellen Freiheitsbegriffs, der nicht mehr nach den Voraussetzungen von Leben fragt. Auf der anderen Seite der Verdacht, dass der Staat übergriffig ist, wo es um die Entscheidung des einzelnen Menschen geht, die nur er treffen zu können glaubt. Bis heute stehen sich die beiden Pole der Diskussion unversöhnlich gegenüber. In Amerika haben Abtreibungsgegner schon Ärzte erschossen, von denen bekannt war, dass sie Abtreibungen vornahmen. In Deutschland dagegen erzählte vor Jahren eine Politikerin, dass zwei Abtreibungen „für ein lustvolles Liebesleben“, wie sie es nannte, nicht zu viele seien, und lachte.
Was bei solch bösartiger Konfrontation, bei der die Auseinandersetzung zwischen einem radikalen Freiheitsbegriff und dessen Gegnern so brutal ausgetragen wird, übersehen bleibt, sind all die anderen Facetten, die dieses Thema ausmachen. Von zahlreichen Priestern und Psychotherapeuten wissen wir, dass viele Frauen und Männer oft über Jahrzehnte schlimm darunter leiden, dass sie geschenktes Leben nicht angenommen haben. Ein Therapeut sagt: „In vielen Gesprächen wird das weniger, aber es braucht lange Zeit und viel Hilfe.“
Darüber wird in den Medien aber nicht gesprochen. Auch nicht darüber, dass werdendes Leben oft genug ein Angebot sein kann für eine neue und lichtvolle Zukunft, was junge Menschen aber nicht lesen und verstehen können, weil sie schon mit ihren Problemen des Alltags überfordert sind. Die Auseinandersetzung zwischen einem radikalen Freiheitsbegriff und dem Verdacht, dass der Staat übergriffig ist, verdeckt alle anderen Facetten dieses Themas, die so tragischerweise aus dem Blick geraten. Gerade in den Medien.
50 Jahre nach dieser Polarisierung wiederholt sich die Geschichte. Auch bei Corona steht der radikalen Freiheitsbehauptung des Einzelnen der Verdacht gegenüber, dass ein übergriffiger Staat den Bürger dieses Staates bevormunden will: Corona-Politik als Instrument des Staates und seiner Politiker, die Bürger in ihrer Freiheit einzuschränken. Es bleibt doch eine wesentliche Gruppe in unserer Gesellschaft, die das so sieht und auch so ausspricht. Und die Politiker selbst haben Angst, so gesehen zu werden, und richten ihr politisches Handeln zum Teil nach diesem Verdacht aus.
Eine vom Staat verordnete Impfpflicht wurde deshalb von der Politik am Anfang ganz schnell ausgeschlossen, um ja nicht in den Verdacht einer Übergriffigkeit zu geraten. Völlig zu Recht schreibt deshalb der angesehene Journalist Georg Mascolo in der „Süddeutschen Zeitung“ vor Kurzem: „Es gehört zu den Mysterien dieser Pandemie, wie schnell so ziemlich alle in der Politik (und in den Medien) bereits im Frühjahr 2020 auch nur jede Debatte dazu (gemeint ist die Impfpflicht) für unnötig erklärten.“ Vom Staat verordnete Verantwortung für den anderen hat bei uns etwas Anstößiges, man muss es so sagen.
Historischer Hintergrund dieser Problematik ist der deutsche Obrigkeitsstaat, wie er sich hierzulande vor allem vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert entwickelte. Während in anderen Ländern Revolutionen die Monarchien zerstörten und Demokratien schufen, zeichnete Heinrich Mann mit seinem Roman „Der Untertan“ kein ganz falsches Bild von Deutschland. Und so kommt es zu dieser typisch deutschen Spaltung des Freiheitsbegriffs, wo Freiheit für die einen nur im Rahmen des Obrigkeitsstaates denkbar ist, für die anderen in einem „absoluten Reich jenseits aller Staaten“. So hat schon 1957 der amerikanische Historiker Leonard Krieger in einem treffenden Befund die Situation Deutschlands herausgearbeitet.
Einem radikal subjektiven Freiheitsbegriff steht historisch der deutsche Obrigkeitsstaat gegenüber, das ist die historische Linie, die man kennen muss, um die Problematik der Diskussionen um eine Impfpflicht hierzulande zu verstehen. Eine vermittelnde Position ist deshalb in unserer Gesellschaft so schwer zu finden oder zu erreichen.
Die Frage aber, ob und inwieweit der Mensch frei ist, ist das zwingend notwendige Fundament, um gesellschaftlich Frieden zu wahren. Blicken wir auf einen Wissenschaftler, der sich wie kaum ein anderer mit dieser Frage beschäftigt hat: den Schicksalsanalytiker Leopold Szondi, den hoch angesehenen Forscher und Arzt aus Zürich, der im letzten Jahrhundert lebte und wirkte. Auch er spricht von einem unbedingten Freiheitsdrang des Menschen. Diese Freiheit aber ist für ihn als radikal individuelle Realisierung von Freiheit nicht möglich, weil jeder Mensch immer schon eingebunden sei in Gesellschaft und Gemeinschaft. Nur in seiner Fähigkeit, Position zu beziehen zwischen verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten aus seinen geistigen Möglichkeiten heraus, die jedem Menschen innewohnten, realisiere sich menschliche Freiheit. Als Wahlfreiheit, als Freiheit, sich zu entscheiden, als Freiheit, Position zu beziehen. Absolute Freiheit gibt es für Szondi nicht. Um aber Freiheit richtig zu gebrauchen, sei der Mensch aufgerufen, seine transzendenten Möglichkeiten in sich zu finden. Den gleichsam Heiligen Geist in sich selbst zu suchen und von dorther Entscheidungen zu treffen.
Eine solche Entscheidungsgrundlage aber wird kaum das Schicksal des anderen Menschen ausklammern. Ein solcher Freiheitsbegriff wird sich kaum als radikal individualisierter Freiheitsbegriff äußern. Sondern er wird nach dem anderen fragen, nach dessen Wohl und nach dessen Leben und von daher Grenzen der eigenen Freiheit thematisieren und für gesellschaftlich bedeutsam erachten.
Weihnachten hat in einer säkularisierten Welt für viele an Bedeutung verloren. Dabei ist es gerade das christliche Weltbild, das auf der einen Seite die Freiheit des Menschen unbedingt will, aber auf der anderen Seite die Nächstenliebe als Grenze der eigenen Freiheit immer wieder zur Sprache bringt. Bei politischen Diskussionen wäre es schon sinnvoll, die christliche Hintergrundmusik der Nächstenliebe im Ohr zu behalten und nicht nur im Abwehrreflex gegen einen scheinbar übermächtigen Staat stecken zu bleiben. Das würde dann auch den bösen und aggressiven Ton, der so sehr spaltet, wegnehmen. Ein Weihnachtsgeschenk halt.
Straubinger Tagblatt vom 18. Dezember 2021