Jeder Schüler eines humanistischen Gymnasiums erinnert sich noch Jahrzehnte später an den Höhepunkt des Griechischunterrichts: der Tod von Sokrates, nachzulesen bei seinem Freund und Schüler Platon. Drei Jahre dauert es nur, bis der Gymnasiast dann fähig ist, Platon im Original zu lesen. Was für eine Faszination! Noch dazu dieser Text, in dem Sokrates seinen Richtern in großer Gelassenheit sagt, dass er nun sterben müsse, während sie leben dürften. Wer aber das bessere Los gezogen habe, das bleibe offen. Unvergesslich!
Wenn wir heute von der sogenannten „christlich-abendländischen Kultur“ sprechen, dann ist exakt diese Zeit gemeint, die wie eine Geburtswiege unsere Welt bis heute prägt: die großen griechischen Philosophen, von den Vorsokratikern bis hin zu Aristoteles, dem Schüler Platons, auf der einen Seite. Und 400 Jahre später die Geburt Jesu mit all den Gleichnissen und Lehren, die in den Schriften des Neuen Testaments dann 70 bis 100 Jahre nach seinem Tod aufgeschrieben wurden, auf der anderen Seite.
Was verbindet und trennt Platon vom Christentum?
Dass jetzt der hoch angesehene Tübinger Gräzist Thomas Alexander Szlezák das Leben und das Denken des großen Philosophen Platon in einem monumentalen Werk nochmals mit größter Genauigkeit beschrieben hat, ist aus diesem Grund dankenswert. Es ist auch deshalb großartig, weil er den Einwand, den wir aus heutiger Sicht gegen Platons Denken haben, nicht verschweigt. Denn eine Philosophie, die nach einem Ideal ausgerichtet ist oder, noch exakter, nach Idealen, trägt immer den Kern des Totalitarismus in sich. Der Einwand der christlichen Philosophie gegen das Denken in der Antike, dass erst mit Jesus und seiner Offenbarungsgeschichte der einzelne Mensch bei seinem Namen gerufen und unverlierbar als genau der, der er ist, von Gott angenommen wird, wird von Szlezák nicht zurückgenommen: Das Einzige, was bei Platon „den Tod übersteht, kann keinen persönlichen Charakter haben, wenn wir unter Person den Menschen als diese bestimmte Verbindung von Körper und Seele verstehen, also den Menschen mit seinen Sinnesempfindungen und Erinnerungen, seiner Selbstbeherrschung oder Zügellosigkeit, seinen Gewohnheiten und Schwächen, seinen Hoffnungen und Ängsten. Der Verlust von Körper und sterblichen Seelenteilen im Tod wäre auch der Verlust der leibseelischen Identität“. So ist das bei Platon.
Das ist tatsächlich die entscheidende Grenzscheide, die das Prinzip der Hoffnung des Christenmenschen auf ein persönliches ewiges Leben nach dem Tod von dem Unsterblichkeitsgedanken bei Platon trennt. Und exakt deshalb wehrt sich ja die christliche Philosophie gerade heute gegen eine Fehldeutung ihres Glaubensverständnisses, wenn abstrakte asketische Ideale der griechischen Philosophie die Menschenfreundlichkeit Jesu, die über alle Zeiten hinweg jedem einzelnen Menschen auf dieser Erde gilt und genau ihn beim Namen ruft, verdüstern. Es ist das Prinzip der Personalität über den Tod hinaus, das es bei Platon nicht gibt und das aber doch genau die entscheidende Hoffnung des Menschen in unseren Tagen bleibt.
Das ist das eine, was wichtig ist und was uns heute von Platon trennt. Der andere Punkt aber ist: Bei Platon gibt es die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Bei Platon gibt es einen Gott, auf den das Leben ausgerichtet werden soll. Leben ist eben nicht einer völligen Relativität und Beliebigkeit unterworfen, es steht nicht nur unter dem Zeichen der Kontingenz, sondern es stellt uns auch vor die Aufgabe, es fruchtbar im Sinne des Guten zu nutzen. Von daher entwickelt Platon seine Ethik, aber auch seine politischen Ideen, wie ein guter Staat zu organisieren ist.
Und an dieser Stelle lässt sich sowohl die Brücke finden zum Menschenbild der christlichen Philosophie als auch zur Entwicklung der Staatstheorie, wie sie dann in der Neuzeit von den bekannten Theoretikern der Macht – von Machiavelli bis John Locke – diskutiert wird. Von seiner Forderung nach dem Ideal aus entwickelt Platon zwar den Gedanken vom „göttlichen Rang der Vernunftseele“, die aufgerufen ist, nach den Idealen des Guten und Schönen zu streben. Aber er weiß auch, dass in der Seele des Menschen Abgründe liegen, so dass sie zwischen den beiden Polen „fehllos zu bleiben“ und „ihrer Gefährdung durch selbstverschuldeten moralischen Verfall (bis zur Vertierung)“ angelegt ist.
Das aber ist modern bis in unsere Gegenwart. In der christlichen Anthropologie wird heute gelehrt, dass der Mensch in seinem innersten Kern eben nicht festgelegt ist, ob er das Gute will und tut oder ob er sich genau dagegen entscheidet, um böse zu sein und ins Bodenlose zu fallen. Dem entspricht die Szene, in der der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig im englischen Exil im Gespräch mit dem Psychoanalytiker Sigmund Freud sich über die Gräuel der Nazi-Diktatur zutiefst verwundert zeigt, worauf ihm Freud ganz im Sinne Platons antwortet, dass ihn das nicht weiter verwundere, weil auch das im Menschen angelegt sei.
Vor diesem Hintergrund spielt in Platons Philosophie die „Lust“ eine nachgeordnete Rolle hinter dem „Maß und dem Maßhaften“, dem „Schönen und Vollkommenen“, der „Vernunft und Einsicht“, aber auch noch hinter den „Wissenschaften und den Künsten“. Während Jesus den Hungrigen Brot und Fisch auf die Tische zaubert, die Kranken heilt und über den gestorbenen Freund weint, mahnt Platon im Gegensatz dazu, sich zur Höhe der „Geistseele“ aufzuschwingen, wenn Bedrängnis droht. Während moderne Theologen warnen, dass eine Philosophie, die den Menschen in seinen Gefühlen und Trieben nicht abholt, ins Leere läuft, steht Platon in seinem Denken selbst auf der Höhe seiner von ihm als Philosoph eingeforderten Ideale.
Unsere Welt heute aber steht in der Tradition beider Entwicklungsstränge. Auf der einen Seite leben wir – und das ist auch notwendig – auf Ideale hin und von Idealen her. Aber das kann eben auch überfordern und entfremden oder sogar degenerieren, bis hin zu den sinnleeren Model-Contests bei Heidi Klum, wo Menschen im Zeichen eines inhaltlosen Schönheitsideals nur noch missbraucht werden. Auf der anderen Seite suchen wir heute genau deshalb dringender als je zuvor eine Kultur des Mitleids, die die Kälte einer nur von Idealen bestimmten Welt hinter sich lässt.
Nur im Dialog kommt die Wahrheit ans Licht
Noch eine entscheidende Fußnote. Platon hat uns Dialoge hinterlassen, in denen seine Gedanken diskutiert werden. Und doch misstraut er dem Medium der Schrift. Nur im Gespräch mit einem anderen, der wirklich an der Sache der Philosophie interessiert sei, komme Wahrheit ans Licht. Im unmittelbaren Gespräch, zu dem die Beziehung der Sprechenden gehört, die Zeit, das Schweigen und auch das Verhältnis der Dialogpartner zu sich selbst, zeige sich – im „Durchgang durch unterschiedliche Positionen“ – am Ende Wahrheit. Entscheidend aber ist für Platon auch, dass Wahrheit sich nicht herbeidiskutieren lässt, sondern am Ende gehe es „um ein plötzliches Aufleuchten der Erkenntnis. Das plötzliche Licht weist auf den Umstand, dass es sich nicht um eine berechenbare intellektuelle Leistung, erbracht durch diskursive Verstandesarbeit, handelt“.
So gibt es also schon bei Platon einen Bereich des Nicht-Sagbaren, des Unsagbaren, der „als nichtverbales, innerseelisches Ereignis prinzipiell nicht in Worte fassbar ist“. Die Brücken, die von einem solchen Verständnis von Erkenntnis bis in unsere Gegenwart reichen, sind unzählige. Und schon allein deshalb lohnt sich die Lektüre des feinen und großen Buches von Thomas Alexander Szlezák, das nicht umsonst den Titel „Platon – Meisterdenker der Antike“ trägt.
Thomas Alexander Szlezák: Platon – Meisterdenker der Antike. C. H. Beck Verlag, München 2021, 779 Seiten, 38 Euro.
Straubinger Tagblatt vom 24. April 2021