„Es gibt keinen Zufall, es ist immer das Fällige, was uns zufällt“: Was die Worte von Max Frisch mit dem Scheitern von Friedrich Merz im Kampf um die Macht zu tun haben. Eine Betrachtung
Ich habe einen Mann gekannt, er bildete sich ein, ein Pechvogel zu sein, ein redlicher, aber von keinem Glück begünstigter Mann.“ Diese kleine Erzählung über einen, der denkt, dass er immer Pech hat und immer auf der Verliererseite steht, hat der Schriftsteller Max Frisch in seinen großen Roman „Mein Name sei Gantenbein“ eingeflochten. Das Lebensthema von Max Frisch war: Was ist ein menschliches Schicksal? Wie kann man es lesen? Kann man sein eigenes Leben verstehen?
Alles Zufall? Die Geschichte eines Pechvogels?
„Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu – man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt.“ So schreibt Max Frisch das auf. Der Pechvogel in seinem Roman ordnet alles seiner Fantasie unter, dass er immer Pech habe. Sobald er gespart hat, beginnt die Inflation sein Geld aufzufressen; ein Ziegel fällt vom Dach, wenn er vorbeiläuft.
Und dann gewinnt diese Figur, die Max Frisch so zauberhaft erfindet, in der Lotterie. Das große Los. „Es stand in der Zeitung, und so konnte er’s nicht leugnen … man musste ihn geradezu trösten. Vergeblich. Er konnte es nicht fassen, dass er kein Pechvogel sei, wollte es nicht fassen und war so verwirrt, dass er, als er von der Bank kam, tatsächlich seine Brieftasche verlor.“
Wundervoll! Der Verlierer. Der geborene Verlierer. Der eingebildete Verlierer. Oder auch der, von dem die anderen sagen: Das ist nur ein Verlierer. Kann man Leben so deuten? Ein Schicksal so festlegen?
Wer einmal neben Franz Beckenbauer stand, der weiß, was ein Glückskind ist. Da kann der ganze Himmel voller Wolken sein, wenn auch nur ein kleiner Sonnenstrahl sich Bahn bricht, kann man sich sicher sein, er wird sein Licht auf das Haupt von Franz Beckenbauer senden, so fühlte sich das an, wenn man im Münchner Olympiastadion zufällig einen Augenblick neben ihm zu stehen kam. Vom Schicksal geliebt. Spürbar. Fast sichtbar.
Und Friedrich Merz? Die gescheiterte Zukunftshoffnung der CDU? Als er Fraktionsvorsitzender war vor gefühlt 200 Jahren, da bootete ihn die neue Parteichefin Angela Merkel aus, noch bevor er das mitbekam. Als er nach einem halben Leben anlief, das zu korrigieren, scheiterte er. Als sich zwei Jahre später die Chance nochmals bot, scheiterte er wieder.
Alles Zufall? Die Geschichte eines Pechvogels? Oder gibt es am Ende doch nachvollziehbare Gründe für dieses Scheitern?
In der Psychologie gibt es den interessanten Aspekt der Wiederholung oder auch der Wiederkehr. Situationen können sich wiederholen. Sie können sich auch mehrmals wiederholen. Aus der Psychologie wissen wir: Wer immer wieder betrogen wird, kann davon ausgehen, dass er bei sich selbst anfangen und nachschauen muss, weshalb gerade er immer wieder aufs Neue betrogen wird.
Wer im Rhythmus von immer drei Jahren die Partnerin verliert oder im Sport alle zwei Jahre das Traineramt, der muss nach den Regeln der Psychologie sich selbst prüfen, weshalb das gerade bei ihm so ist. Warum ist der Trainer des SC Freiburg Christian Streich jetzt seit neun Jahren im Amt und praktisch unkündbar? Oder damals Otto Rehhagel 14 Jahre lang bei Werder Bremen? Der aus Oliver Reck, von dem man kaum glauben wollte, dass er dem Beruf des Torwarts nachging, einen Nationalspieler machte. Während bei anderen Trainern die Halbwertszeit ihrer Mitarbeit bei einem Klub oft bei einem knappen Jahr liegt. Und das regelmäßig.
Armin Laschet wuchs über sich selbst hinaus
Bei Friedrich Merz ist auffallend, dass ihm zweimal das exakt gleiche Schicksal widerfahren ist. Vor der Wahl zum Parteivorsitzenden wurde er regelrecht gehypt. Dann hielt er zweimal – scheinbar überraschend – eine verdammt schlechte Rede, um dann jedes Mal relativ knapp zu verlieren. Eine auffallende Parallele. Eine typische Wiederholung! Weshalb?
Der Politiker Friedrich Merz löste bei vielen Menschen Hoffnung aus. Man könnte auch sagen, sie projizierten ihre Hoffnungen erst einmal auf ihn. Alles muss anders und besser werden. Raus aus dem grauen Alltag. Sein schneidiges, scheinbar kantiges Auftreten. Auf alle Fragen eine Antwort. Hier beginnt der Zweifel dann schon. Aber doch: ein Mann voller Gesten der Souveränität. Ein Meister der Selbstdarstellung. Erst einmal. Und dann wird das weniger. Selbst innerhalb einer einzigen Talkshow verliert das schon an Kraft und Anziehung. Erst unmerklich, dann spürbar. Weshalb? Weil es von der Wirklichkeit nicht gedeckt ist. Vom Leben. Vom Alltag.
Scheinbar glänzende Rhetorik, aber wo war der greifbare Kern der Lebenserfahrung, der man hätte vertrauen sollen? Ein Mann der Finanzwelt, in der jenseits der Arbeit das Geld „gemacht“ wird. Nicht der realen Wirtschaft, wo im Schweiße des Angesichts der Lohnzettel „verdient“ wird.
Und dann spricht er von den „fleißigen Händen“ der fleißigen Menschen, die wieder besser dastehen sollen. War das glaubhaft? Ein Mann der Wirtschaft? Eher doch ein Mann des Kapitals.
Und in seiner eigenen Partei? Kein Parteisoldat. Eher ein Flüchtling. Damals, als er das Amt verlor vor 20 Jahren; und dann wieder vor zwei Jahren. Auch hier eine Wiederholung. Als Chef wär’ er dageblieben, aber nur dann. Mitarbeit im grauen Alltag – Fehlanzeige.
Der Fauxpas, dass er sich nach dem abermaligen Scheitern als Wirtschaftsminister anbietet, aber Parteiarbeit ablehnt, war darum keine einmalige Fehlleistung, auch wenn er sie schnell zurücknahm, sondern Symptom für eine Haltung: Arroganz des Nicht-Mächtigen.
Seinen gestrandeten Homo faber lässt Max Frisch sagen: „Nie wieder fliegen! Wunsch, auf der Erde zu gehen.“ Friedrich Merz liebt seine Flugzeuge und würde so gerne als Minister durch die Welt fliegen.
Armin Laschet war der Gegenentwurf. Unscheinbar. Eher zu klein. Buchstäblich. Aber dann, als er mit einer Rede auftreten muss, hält er, wie alle sagen, „die Rede seines Lebens“ – und wurde statt Merz CDU-Chef. Warum? Weil sein Streben nach dem Amt von seinem Leben gedeckt war, bis hin zur Biografie des Vaters, die er so anrührend zitierte. Im entscheidenden Augenblick ist er da. Versagt nicht. Lebenserfahrung statt Projektionen – und da wächst der Mann also in seiner Werbung für sich und seine Sache plötzlich über sich hinaus. Im Letzten gar nicht so sensationell.
Der knappe Ausgang der Wahl, wirklich eine Überraschung? Ein Zufall? Hätte es nicht auch genau andersherum sein können? Es fehlten doch nur ganz wenige Stimmen.
Max Frisch: „Es gibt keinen Zufall, es ist immer das Fällige, was uns zufällt.“ Die Wiederholung der Niederlage als Psychogramm eines Scheiterns, das verstehbar ist.
Es gibt keine geborenen Verlierer und Gewinner
Jetzt werden die Scherben zusammengekehrt. Wir schätzen ihn, sagen die anderen in der Partei heute, damit sie die Hoffnungen, die er ausgelöst hat, irgendwie mitnehmen. Von ihm selbst wissen sie, was sie zu halten haben, aber dürfen es nicht laut sagen. Auch das ist Psychologie.
Und die Wiederholung? Gibt es auch Wiederholungen, die gelingen? Dass ein Scheitern regelrecht korrigiert wird?
2001! Zwei Jahre lang stand der Torwart des FC Bayern Oliver Kahn jeden Morgen beim Rasieren vor dem Spiegel und sagte zu sich: „Dieses Scheiß-Spiel!“ So hat er es erzählt.
Gemeint war die Niederlage gegen Manchester United im Championsleague-Finale 1999 in den letzten zwei Minuten. Zwei Jahre später die Wiederholung. Eine neue Chance. Wieder ein Endspiel. Dieselbe Situation, fast dieselbe Mannschaft, aber alle hatten gelernt und verstanden. Nicht wieder verlieren. Und so war’s dann auch gegen Valencia.
Es gibt keine geborenen Verlierer und keine geborenen Gewinner. „Jeder ist seines Glückes Schmied“, hat das vor Sigmund Freud einmal geheißen.
Straubinger Tagblatt vom 6. Februar 2021