Ein Philosoph, der ihn noch persönlich kannte, erzählte mir über den französischen Existenzialisten Jean-Paul Sartre folgende Geschichte: Der große Meister saß in einem Park auf einer Bank. Die Sonne schien und er war mit sich ganz im Reinen. Ein Gleichklang von Selbst und Welt. Harmonie. Plötzlich bemerkte er in seinem Blickfeld einen Menschen, der sich ihm näherte. Wer war das? Was wollte der? Hatte er mit ihm zu tun? Der Philosoph wurde unsicher und sagte am Ende zu sich selbst: „Verdammt, jede Sau dezentriert mich.“
Damit ist das Dilemma des Existenzialismus auf den Punkt gebracht. Der andere ist das große Problem. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard formuliert das 100 Jahre vorher in etwa so: Der schönste Moment sei der, wenn er ins Wasser springe. „Hurra, ich habe mit der Welt nichts mehr zu tun.“ Die Beziehung zum anderen Menschen bleibt aber auch für die wirklich christliche Philosophie in ihrer Ambivalenz unaufhebbar. Eugen Biser schreibt in seiner Anthropologie „Der Mensch – das uneingelöste Versprechen“ deshalb vollkommen zu Recht: „Es ist die Angst des Menschen vor dem Mitmenschen, den er einerseits als den Retter aus seiner Einsamkeit ersehnt und andererseits als denjenigen fürchtet, der sich ihm unversehens in einen reißenden Wolf verwandeln könnte.“ Der Philosoph Sartre schreibt: „Die Hölle – das sind die anderen.“
Am Freitag ist ein seltsames Schuljahr zu Ende gegangen. Zu Hause wurde über viele Wochen gelernt, digital wurde man dabei angeleitet. Die Klassengemeinschaft fiel aus. An den Universitäten dasselbe. Digitales Selbststudium. Die Antwort der Politik: Die Digitalisierung muss mit aller Macht weitergetrieben werden. Jetzt habe man gesehen, wie weit es da noch fehle. Die Antwort einer liebenswürdigen Grundschullehrerin: „20 Prozent von dem, was ich geben und einbringen könnte, konnte ich digital vermitteln. Nicht aus Zeitmangel, sondern aus Mangel an Nähe und unmittelbarem Kontakt.“
Wenn man an die eigene Schul- und Studienzeit zurückdenkt und Jahrzehnte später zurückschaut – was war denn wirklich wichtig? Was weiß man heute denn noch von all den Fakten, die einem eingebläut wurden und die dann am Ende tatsächlich auch digital vermittelbar sind? Sinus und Cosinus, unendlich viele lateinische Deklinationen und Konjugationen – oder in Biologie, wie man ein Kind zeugt. Aber in Erinnerung geblieben sind doch die Lehrer selbst in ihrem Ernst und ihrem Bemühen, oder auch Halbsätze, ein Räuspern, ein gedankenvolles Schweigen, dem man entnehmen konnte, dass hier eine wichtige Frage verhandelt wurde. Begegnungen, die Erfahrung des anderen, mit den anderen. Das Verhältnis zu den Mitschülern, die Freude, mit diesen Freunden über Jahre durch einen Lebensabschnitt zu gehen und beieinander zu sein.
An der Universität war das schon anders. Da stand der Mensch oft nicht mehr so im Mittelpunkt. Das Haifischbecken der ehrgeizigen Professoren, die ihre Wissenschaft auf den Sockel hoben. Kalt und abweisend war der Wissenschaftsbetrieb oft genug. Wie dankbar war man da für die Professoren, die die Studenten in dieser Phase ihres Lebens, die ja nicht einfach ist, ernsthaft in den Blick nahmen. Sich Zeit nahmen für ein persönliches Wort in der Sprechstunde oder auch nach dem Oberseminar einen regelmäßigen Stammtisch organisierten und so die Studenten aus ihrer Einsamkeit für diesen einen Abend erlösten. „Ein ernsthaft betriebenes Studium ist auch eine Einsamkeitserfahrung“, sagte ein netter Professor damals und traf den Nagel so auf den Kopf. Das ist ja doch die entscheidende Phase des Lebens, wenn die Kindheit aufhört und die eigene Lebenssituation beginnt. Wer wollte das primär digital begleiten?
Sicher es gab auch die Beziehungsgestörten. Und das nicht zu knapp. Denen kommt die digitale Welt natürlich entgegen. Der Student ist nicht mehr wirklich da. Und schon gar nicht 50 oder 100 davon. Was für eine Erleichterung! Aus dem eigenen Wissenschaftskämmerchen heraus wird nun digital gesendet. Aber ist das am Ende nicht auch langweilig?
Wir Kaufleute haben jetzt unendlich viele Digitalkonferenzen hinter uns. Auf den Bildschirmen werden die Partner sicht- und hörbar. Briefmarkengroß jeder Einzelne. Wenn man selbst gerade nicht spricht, kann man sein eigenes Bild ausblenden, aber auch den Ton ausschalten. Dann kann man andere Dinge nebenher tun. Was auch immer. Den Raum verlassen, ein Bier trinken, den Wetterbericht googeln. Schöne neue Welt. Aber selbst wenn man mit ungeteilter Aufmerksamkeit teilnimmt: Die anderen bleiben geruchs- und geschmacklos, reduziert auf ihr digitales Kopfbild. Distanziert und unberührbar. Fremd, aber doch scheinbar nahe, wenn sie auf dem Schreibtisch, wo das Laptop steht, zu sprechen beginnen. Im Letzten trostlos.
Die Politik hat nicht verstanden, dass eine digitale Welt auch eine leere und kalte Welt ist. Sie hat nicht verstanden, dass die digitalen Instrumente nur Werkzeuge sind, die am Ende die Lebenswelt, die wirklich ist, besser machen sollen. In der Medizin, in der Schule, an den Universitäten, in den Medien. Alles soll und muss heute digital sein. Die Zeitungen sollen über 200 Millionen Euro bekommen, aber nicht für die Zustellung im ländlichen Raum, sondern für ihre Transformation ins Digitale. Absurd. Wir beklagen, dass die Dorfwirtshäuser sterben und dass es keine Landärzte mehr gibt. Aber die politischen Rahmenbedingungen, dass weiter Leben ist, die gibt es viel zu wenig.
Warum ist das so? Sicher auch deshalb, weil Politik in einer eigenen Blase stattfindet. In der Politik ist immer jetzt. Gestern ist schon unwichtig und morgen noch nicht da. Heute, genau jetzt muss es nach oben und nach vorne gehen. Mit dieser ungeheuren Geschwindigkeit des Politikbetriebs. Dort ein Interview, hier eine wichtige Entscheidung, dann noch eine Ansprache, abends ein Abendtermin, obwohl man eigentlich schon erschöpft ist und nicht mehr kann. Politik als Droge, Aufmerksamkeit als Adrenalinverstärker – und das alles immer im Jetzt. Der Blick dabei aufs Handy gerichtet. Was wird gerade jetzt digital vermeldet? Wer ist in welchem sozialen Netzwerk gerade jetzt am Tippen? Wer positioniert sich genau jetzt genau wie? Da gehen Maßstäbe verloren und das Leben in seiner Wirklichkeit gerät aus dem Blick. Am Ende steht ein Weltbild, wo Drohnen Zeitungen zustellen – wenigstens für die, die sie noch lesen wollen – und Flugtaxis über München schwirren.
Eine Welt, die das Digitale nicht als sinnvolles Werkzeug nutzt, sondern die selber in ihrem Kern digital sein will, ist eine kaputte Welt. Jede echte Begegnung ist auch heute noch ein Geschenk und eine Beziehung, die sich über das Netz definiert, bleibt defizitär, auch wenn es die Beteiligten schon nicht mehr merken. Digitales Lehren und Lernen sind sinnvolle Notlösungen in schwierigen Zeiten – nicht mehr.
Straubinger Tagblatt vom 25. Juli 2020