Es ist schwierig. Sagt man zu einem Studenten: „Ich weiß Ihren Namen jetzt nicht, weil wir uns ja nur einmal in der Woche in der Vorlesung sehen. Aber Sie schauen gerade so interessiert und intelligent, darf ich Sie um Ihre Meinung fragen?“, dann entsteht Erheiterung im Hörsaal, und der angesprochene Student wird wahrscheinlich sagen: „Können Sie bitte die Frage nochmals wiederholen! Ich war gerade ganz woanders …“ Erneute Erheiterung im Plenum, bevor der Student dann fortfährt: „Dazu fällt mir im Moment nichts ein!“ Abermalige und letztmalige Erheiterung.
Sagt man denselben Satz zu einer Studentin, wird die Sache kompliziert. Es kann dann gut sein, dass eine Kommilitonin sich erhebt und meint: „Sie glauben wohl, dass wir Frauen nicht interessiert sind und auch nicht intelligent dreinschauen.“ Es folgt unterstützendes Nicken der Nachbarinnen, die sich mitbetroffen fühlen. Es gibt keine Erheiterung, erst recht nicht für den Dozenten, wenn er am Ende des Semesters seine Bewertung durch seine Studentinnen liest, die dann – wenn auch in geringer Zahl – schreiben, sie hätten sich zum Teil in ihrer Geschlechteridentität diskriminiert gefühlt. Vor allem dann, wenn er ein ihm unbekanntes weibliches Geschöpf in der vorletzten Reihe aufgerufen und als „schönes“ oder gar „nettes Mädchen“ apostrophiert hat. Aha!
Kermanis Kritik an einer genderneutralen Sprache
Mittlerweile wird allerdings gegen den Generalverdacht, dass die Sprache voll sei von Diskriminierungen gegen Frauen, Ein- und Widerspruch erhoben. So schrieb der hoch angesehene Schriftsteller Navid Kermani, der 2015 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, vor kurzem in der Wochenzeitung „Die Zeit“ einen Essay, in dem er bedauerte, dass es in gendergerechten Zeiten unausweichlich werde, sich vom sogenannten „generischen Maskulinum“ zu verabschieden. Wer heute noch von „Schriftstellern“ oder „Politikern“ spreche, sei dem Verdacht ausgesetzt, zu ignorieren, dass es auch „Schriftstellerinnen“ und „Politikerinnen“ gebe. Das sei zwar Unsinn, allerdings sehe er keine Möglichkeiten, diesen Verdacht, auch wenn er falsch sei, zu entkräften.
Deshalb: „Was wahrscheinlich aus der deutschen Sprache verschwinden wird, ist das generische Maskulinum … Als Schriftsteller kann ich den Verlust bedauern, ich kann darauf hinweisen, dass gerade der Verzicht auf eine geschlechtsneutrale Verwendung von Wörtern die Sexualisierung der Sprache befördert, ich kann mich gegen das Verschwinden des generischen Maskulinums stemmen; aber zugleich möchte ich natürlich vermeiden, dass meine Sprache als unhöflich empfunden oder gar mit einer konservativen gesellschaftspolitischen Botschaft verbunden wird, die althergebrachte Geschlechterrollen affirmiert.“
Bei aller Resignation fällt Kermani am Ende ein vernichtendes Urteil über das Gendern. Für ihn als Schriftsteller sei das eine „geistige wie politische Regression“, die er nicht als „emanzipatorisch“ wahrnehme, sondern geradewegs als das Gegenteil davon. „Geschlechtszuschreibungen gehen nicht in zwei, sie gehen aber auch nicht in 27 Kategorien auf. Zu meinen, man könne mittels der Sprache jederzeit jedem Angesprochenen gerecht werden, verkennt nicht nur ihr Wesen; es legt die Angesprochenen überhaupt erst fest auf eine Identität“, so dass die „Vielfalt, die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur und ihrer Wahrnehmung“ Schaden leiden würden. Eine mutige Stellungnahme des Schriftstellers.
Noch weiter geht jetzt der Schriftsteller und Journalist Tobias Haberl in seinem neuen Sachbuch „Der gekränkte Mann“. Auch er bewegt sich über das sprachliche Phänomen einer gendergerechten Welt hinaus und fragt im Rahmen eines umfassenden kulturellen Blicks auf die Gegenwart, wie Männer sich heute überhaupt noch als Männer definieren sollen oder können.
Kreuzbrave Männer ohne Zauber und Geheimnis
Haberl macht kein Geheimnis aus seiner eigenen Lebensgeschichte. Er kommt aus einer klassischen bürgerlichen Familie. Der Vater ist ein liebevoller und leidenschaftlicher Arzt. Die Mutter kümmert sich um die Familie. Eine Schwester. Kindheit in den 70er und 80er Jahren. Beruf, Familie, Urlaube. Der Sohn liebt den Vater: „Die paar Stunden, die ihm bleiben, versucht er für seine Familie, also auch für mich, da zu sein. Manchmal gehen wir am Sonntag in die Kirche und danach einen Schweinebraten essen. Manchmal fahren wir ins Münchner Olympiastadion oder in die Uffizien nach Florenz. Manchmal spielen wir Tennis oder sammeln Steinpilze im Wald, in der Dämmerung, morgens um fünf. Manchmal denkt er sich lateinische Sätze aus, lässt sie mich übersetzen und freut sich, dass ich in Latein offenbar genauso gut bin wie er.“
Durch die Kindheitserinnerungen von Haberl schimmert der Sonnenschein einer glücklichen Kindheit. Abgeschirmt von den Problemen draußen, geliebt in der eigenen Familie, eine gute und heile Welt zwischen Mozart und einem großen Haus mit ebenso großem Garten, zwischen Hermann Hesse und Doktor Schiwago. Vielen aus Haberls Generation, die das lesen, wird das bekannt vorkommen, wie etwa sein Bekenntnis: „Dass sich jemand nicht wahrgenommen fühlen könnte, kommt mir gar nicht in den Sinn, weil ich kein Bewusstsein dafür habe, wie eindimensional die patriarchalische Ordnung funktioniert und dass ärmere, leisere, weniger privilegierte Menschen sich viel schwerer damit tun, sich glücklich zu fühlen oder es tatsächlich zu sein.“
Aber statt sich nur Asche auf’s Haupt zu streuen, beginnt Haberl an diesem Punkt, seine Welt trotz allem zu verteidigen. Eine Männerwelt, die ihn damals faszinierte und auch prägte, mit Robert De Niro und Robert Redford, den Al Pacinos oder James Deans. Mit den Fantasien von Männlichkeit, die ein Junge in dieser Zeit entwickelt und die er bis heute nicht aufgeben will. „Ich muss nur einen halbseidenen Typen mit der Kippe im Mundwinkel an der Straßenecke stehen sehen, schon explodiert etwas in mir, eine Sehnsucht, ein Fernweh, eine unbändige Lust, etwas zu erleben, das ich noch nie erlebt habe. Erst heute, mit knapp fünfzig, verstehe ich vollumfänglich, wie mich all diese Männer, die ein letztes Mal davonkommen oder ihren Untergang als gigantische Kränkung inszenieren, geprägt und getröstet, aber irgendwie auch versaut haben.“
Die Gegenwelt für Haberl ist dennoch: der Angepasste, der Frauenversteher, der immer Kompromissbereite, der so ganz Gesundheitsbewusste. Männer, denen „ein Geheimnis, ein Zauber, ein Risiko“ einfach fehlt und die Haberl nur langweilig findet. „Gewöhnliche Männer“, wie er sie nennt, „kreuzbrave Kollegen aus dem Großraumbüro, die vielleicht einen Punkt in Flensburg haben, weil sie im Feierabendverkehr den Mindestabstand nicht eingehalten haben, aber nicht rechtsradikal, nicht gewalttätig, nicht frauenfeindlich und vor allem: keine bösen Menschen sind.“
Das ist schon arg dünnes Eis, auf dem sich der Autor bewegt, und es erfordert Mut, sich so ungeschützt hinzustellen und laut herauszurufen, dass es in dieser Welt an etwas mangelt. Haberl geht aber noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt, dass das Fehlen von authentischen Männerrollen in die Abgründe des Radikalismus führt. Zu Putin, zur AfD, zu Erdogan oder Trump. Perversionen von Männlichkeit, die am Ende von denen gewählt werden, die in der Gesellschaft keine geeignete Männerrolle mehr finden und sich dann mit denen identifizieren, die ihnen einfache und billige, auch gewalttätige Rollenmuster anbieten. All das ist für Tobias Haberl die Folge einer Kränkung des Mannes, einer „dramatischen Diskursverflachung“, eines „moralischen Diskreditierens“: Denn man „kann nicht mehr plaudern, ohne dass sich von der Seite ein Gender- oder Identitätsaspekt wie Feinstaub über das Gespräch legt, um es zu vereinnahmen, in eine Richtung zu zwingen oder zu ruinieren“.
Aspekte von Männlichkeit, die bewahrt werden sollten
Das Problem am Ende: Menschen, die sich als Opfer definieren, werden in der gesellschaftlichen Debatte „nicht nur zu Klägern, sondern auch gleich zu Richtern, was mit freiheitlich-demokratischem Denken eher weniger zu tun hat“. Haberl nennt unsere Gegenwart ein „postheroisches“ und auch ein „postphallisches“ Zeitalter, was am Ende dahin führe, dass es nur noch die Fehlformen einer überangepassten oder einer überaggressiven Männlichkeit gebe. Bedenkenswert!
Das Lösungsangebot des Autors: „Statt traditionelle Männlichkeit wie in einem Exorzismus auszutreiben, sollten wir akzeptieren, dass es eine männliche Energie gibt, die nicht verlorengehen sollte: eine Lust am Konflikt, Wettbewerb und Widerspruch.“
Das Buch von Tobias Haberl geht nuancenreich auf die Debatten der Gegenwart ein und lässt auch die andere, kritisch beleuchtete Seite immer wieder ausführlich zu Wort kommen, um sich nicht dem Verdacht der Einseitigkeit allzu stark auszusetzen. Am Ende aber bezieht der Autor deutlich Position – intellektuell durchaus anregend und süffig geschrieben, manchmal allerdings etwas zu plakativ. Einfach zu leben und sich nicht mit allen Problemen der Gender- und Identitätsdebatte vertraut zu machen ist am Ende vielleicht doch die noch bessere Lösung!
Tobias Haberl wurde 1975 im Bayerischen Wald geboren und hat Literaturwissenschaft studiert. Er schreibt für die „Süddeutsche Zeitung“ und wurde 2016 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.
Straubinger Tagblatt vom 02. April 2022