Der furchtbare Blick in den Abgrund des Krieges – Ein Essay

Johanna Danis wurde 1922 noch zu Lebzeiten von Sigmund Freud geboren. Das Wissen um die Seele des Menschen sog sie von Kindheit an gleichsam mit der Muttermilch auf. In diesem Jahr wäre sie 100 Jahre alt geworden. Bis ins hohe Alter versammelte sie, die hochgeachtete Professorin für Psychologie, in einem Hotel in München einmal im Monat ihre Freunde und Schüler zu Vorträgen und Gesprächen. Dort eingeladen zu sein war mehr als eine Auszeichnung. Bis vor wenigen Jahren, da sie dann mit weit über 90 Jahren starb. Eine weise alte Frau.

Häufig passierte es an diesen Nachmittagen, dass sie am Ende eines Vortrags nachdenklich wurde und durchaus entschieden den Referenten oder auch die Referentin zurechtwies, dass er oder sie in ihrem Vortrag einer Verführung aufgesessen wäre. Der Begriff der Verführung war ihr zentraler Gegenbegriff zu dem, was sie als Wirklichkeit bezeichnete. Klar wurde immer wieder, wie gerne wir Menschen Verführungen erliegen, die die eigentliche Wirklichkeit unter ihrer Oberfläche zu verbergen versuchen. Solche Verführungen kommen im harmlosen Alltagsgewand daher, so wurde es offensichtlich, und sie sind gerade dort am gefährlichsten, wo sie keinen Widerspruch provozieren. Eine allgemein akzeptierte Wahrheit, die aber am Ende falsch ist, das wäre eine solche kollektive gesellschaftliche Verführung.

Das Narrativ des Überfalls Putins auf sein Nachbarland, die Ukraine, ist scheinbar so leicht und eingängig erzählt. Die Rollen von Gut und Böse sind so klar definiert. Es ist so unsagbar leicht, sich lautstark auf die Seite des Guten zu stellen, der mit jedem Recht mit allem, was er hat, dagegenhält, um sich zu wehren und sein Land zu verteidigen. Aber stimmt das denn so?

Und wir, die wir uns in der Pose der moralischen Rechtschaffenheit in unseren Parlamenten erheben und stehend Beifall klatschen dem Präsidenten der Ukraine, um schon am nächsten Tag neue Waffenlieferungen zu genehmigen – sind wir wirklich so unverdächtig, wie wir glauben?

Putin ist das Antlitz des Bösen. Ein Mörder

Eines vorausgeschickt: Putin ist das Antlitz des Bösen. Er kennt keine Menschlichkeit mehr. Keine Gnade, kein Erbarmen, kein Mitgefühl. Ein Mörder. Ein böser Mörder. Wenn die Menschen in der Ukraine aus ihren Häusern in die Schulen flüchten, bombardiert er die Schulen. Und wenn sie aus den Schulen in die Krankenhäuser flüchten, die Krankenhäuser. Und wenn sie noch in den tiefsten Kellern ihrer Städte Schutz suchen, hat er die Bomben, auch diese Keller zu erreichen und zu zerstören.

Selenskyj der Held, der dem widersteht? Wirklich? Und seine Erzählung, dass in der Ukraine unsere Werte verteidigt werden, stimmt das überhaupt? Im Antlitz des ukrainischen Präsidenten spiegelt sich das Böse, das Putin in die Welt trägt, regelrecht. Den Krieg, den Putin macht, nimmt er an. Hat er wirklich keine Wahl? Warum sagen ehemalige Bundeswehrgeneräle oder Führungsoffiziere, die sich öffentlich äußern, dass dieser Krieg von der Ukraine nicht geführt werden dürfte, weil sie noch gelernt hätten, dass ein Gefecht, von dem man wisse, dass man es nicht gewinnen könne, sofort eingestellt werden müsse? Sind diese Offiziere feige? Oder haben sie einfach gelernt, dass es gilt, Menschenleben zu schonen, wo das noch möglich ist. Worum wird eigentlich gekämpft? Um die territoriale Landeshoheit der Ukraine. Um eine strategisch wichtige Halbinsel und ein paar Tausend Quadratkilometer Land. Ist es das alles wert? Ist das noch Tapferkeit, wenn die Menschen in den eingeschlossenen Städten anfangen zu verhungern und zu verdursten?

Der ehemalige Boxweltmeister Vitali Klitschko sagt: „Wenn ich sterben muss, es macht mir nichts. Für mich ist es eine Ehre, für mein Vaterland zu sterben.“ Sind das wirklich auch unsere Werte? Liegen solche Sätze bei uns nicht 100 oder auch 200 Jahre zurück? Überhaupt – sind Boxer, die es hassen, wenn ihr Trainer einen Kampf verloren gibt und das Handtuch in den letzten Runden in den Ring wirft, die geeigneten politischen Berater?

Mütter gebähren Kinder in Luftschutzbunkern

Die Männer ziehen in der Ukraine mit ihrem Heldenmut in den Krieg. Eine archaische Welt des Krieges, die da wiederaufersteht. Aber die Bilder, die uns erschüttern und unseren Blick auf den Krieg prägen, sind doch die weinenden Frauen mit ihren Kindern in ihren Armen. Frauen, die in den Luftschutzkellern Mütter werden, während draußen die Sirenen vorm Angriff des Feindes warnen. Man kann diese Bilder kaum aushalten. Oder auch die Bilder von den Müttern, die in den Tiefgaragen der ukrainischen Großstädte ihre krebskranken Kinder in ihren Armen halten, weil die Krankenhäuser bombardiert werden. Und in den Verhandlungen mit Russland fordert Selenskyj erst einmal millionenschwere Reparationen für die Schäden an den Häusern, wo doch Putin vor gerade einmal vier Wochen noch erklärt hat, dass er in einen gerechten Krieg zieht. Wird der das ernst nehmen? Ist das nicht wertvolle verlorene Zeit? Wäre es da nicht besser, die wesentlichen Elemente der russischen Forderungen, die ja gar keinen „Regimechange“ mehr verlangen, zu einem wesentlichen Teil schnell selbst anzusprechen und im Letzten auch größere Teile einer Akzeptanz anzukündigen, um Leben zu schonen? Ist denn der nationale Stolz auf das eigene Territorium so wichtig, dass man hier kaum einen Zentimeter nachgeben will? Und ist dieser Stolz am Ende nicht ein furchtbar schlechter Ratgeber?

Selenskyj in der Rolle seines Lebens

Situationen ändern sich. Wer weiß, welche Grenzen der Länder in 20 Jahren noch wichtig sind, in einer globalisierten Welt, wo alle alle brauchen und alle mit allen leben müssen, wenn sie nicht zusammen sterben wollen. Vielleicht wird man in 20 Jahren überhaupt nicht mehr verstehen, worum jetzt gekämpft wird. Aber es bleiben die Schicksale der Menschen, der Familien, in die sich das Grauenhafte dieses Krieges über Generationen einprägt.

Die Medien melden gewonnene Schlachten der ukrainischen Armee. Aber sind das wirklich Siege, da Putin an jedem Tag des Krieges eine neue noch grausamere Eskalationsstufe der Gewalt zünden kann, wenn er nur will? Sind das Siege, wenn als Antwort auf diese gewonnenen Schlachten 20 000 syrische Söldner der russischen Armee helfen sollen, wo die zu schwach ist? Söldner, über Jahre vom Krieg verroht, zum Morden, Vergewaltigen und Brandschatzen ge- und berufen. Den Einsatz von biochemischen Waffen hat Putin schon angedroht, nicht einmal ein Einsatz taktischer Atomwaffen wird von den Fachleuten ausgeschlossen, während Selenskyj in einem Interview sagt: „Putin blufft nur.“ Selenskyj, der gelernte Schauspieler, von dem so viele bewundernd sagen, dass er in seiner Rolle als Präsident der Ukraine, die er mit Haut und Haar verteidigt, ganz aufgeht. Dabei haben wir doch im Studium noch gelernt, dass es nicht gut ist, in einer Rolle ganz aufzugehen, sondern immer noch einen kritischen Abstand zur eigenen gesellschaftlichen Rolle zu haben. Von Schauspielern, die sich ganz an ihre Rollen verloren haben, erzählen gerne die Psychotherapeuten, die dann helfen müssen, das verlorene Selbst wiederzufinden, wenn es denn noch geht.

Und wir? Wir klatschen Beifall. Das ist billig. Wir stehen abseits – und bewundern die Helden des Stücks. Jedenfalls die Guten. Das entlastet uns. Und wir wissen auch: Solange Putin mit der Ukraine nicht fertig ist, kommt er auf keinen Fall zu uns. Je erschöpfter er und sein Land aus diesem Krieg herauskommen, desto sicherer sind wir selbst. Sind unsere Waffenlieferungen wirklich so altruistisch, wie wir uns das glauben machen wollen? Warum widersprechen Philosophen und Theologen, aber auch der unermüdliche Gregor Gysi diesen fortgesetzten Waffenlieferungen? Gregor Gysi sagt: „Die Nato hat 2020 das 17-Fache für Rüstung und Armeen ausgegeben wie Russland. Hat das den Krieg verhindert?“ Sind all diese Mahner zum Frieden wirklich nur blinde Idealisten?

Und wir beschließen immer neue Sanktionen – einerseits richtig, ein Druckmittel, um für den Bösen Wirklichkeit spürbar zu machen. Aber die andere Seite: die Menschen in Russland, die Bevölkerung, die unter diesen Sanktionen leiden wird. Wir handeln mit einer Geschwindigkeit, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen – mit dann wieder neuen Situationen und Handlungsmöglichkeiten. Und wir machen uns selbst – hochmoralisch, wie wir sind – Vorwürfe, dass wir das Ruder der Energieversorgung nicht noch schneller in ganz kurzer Zeit herumreißen können, weil es einfach nicht geht.

Die Wahrheit ist oft „ein Riss durch den Wahn“

Vielleicht werden wir in einer Zeit nach Putin, die gar nicht so weit weg ist, dafür noch dankbar sein. Selbst wenn dann in Katar oder den Vereinigten Arabischen Emiraten eine christliche Revolution ausgebrochen ist und unsere neuen Freunde auch unsere Brüder im Geiste sein werden.

Was ist am Ende die Wahrheit? Wir können es nicht wissen. Dass aber gerade kollektive Deutungen von Welt und Wirklichkeit ganz falsch sein können, hat der Schweizer Schriftsteller Max Frisch mit einem ganz kurzen Satz wunderbar beschrieben. Die Wahrheit sei oft nur „ein Riss durch den Wahn“, so schreibt er, im Wissen, dass wir uns ganz schlimm irren können.

Ein kluger alter Mann unserer deutschen Geschichte ist der ehemalige Hamburger Oberbürgermeister Klaus von Dohnanyi. Mit seinen weit über 90 Lebensjahren hat er die Bombennächte des Zweiten Weltkrieges noch erlebt. Auch jetzt noch mahnt er, dass wir zu sehr auf die militärische Karte setzen und das Denken und Besprechen politischer Lösungen viel zu kurz kommt. Am Ende dieses Krieges wird es eine veränderte Landkarte geben. Wie viele unschuldige Menschen müssen noch sterben, bevor diese Erkenntnis in Verträgen, die dann wieder den Frieden sichern sollen, umgesetzt wird?

Straubinger Tagblatt vom 26. März 2022