Zwei Initialzündungen waren es, die Angela Merkel auf den Weg zur Macht brachten. Die erste: Sie war Wahlkampfmanagerin für Lothar de Maizière, als der 1990 zum einzigen Ministerpräsidenten der ehemaligen DDR gewählt wurde, bevor es dann zur Wiedervereinigung kam. Da sah sie alles, wie es geht, wie man spricht, wie man sich verhält – und als Technikerin des Wahlkampfes war sie für den Erfolg ihres Parteifreundes maßgeblich mitverantwortlich. Warum also sich nicht selbst auf die Reise machen?
Die zweite Initialzündung war ihr oft zitierter Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ im Jahr 1999: Die CDU müsse „selber laufen lernen“, schrieb sie und grenzte sich in scharfer Form vom Übervater der Partei, Helmut Kohl, ab, der interessanterweise ihr eigener politischer Mentor gewesen war. Inhaltlich war der Brief an die eigene Partei leer, es gab keine Vorschläge, was anders oder besser zu machen wäre. Das Ganze war nichts anderes als eine persönliche Abrechnung mit ihrem ehemaligen Förderer. Die Partei aber atmete auf. Viel zu lange schon stand sie im Schatten des ehemaligen Kanzlers der Deutschen Einheit.
Mit der Sachlichkeit einer Wissenschaftlerin
Da gab es nur noch einen, der in der Partei einen ebenbürtigen Einfluss hatte: Wolfgang Schäuble. Als sich wenig später herausstellte, dass auch der einen Spendenscheck von 100 000 Mark in seiner Brieftasche vergessen hatte, war er erst einmal politisch erledigt, und der Weg war frei für die Karriere der Frau, die dann 16 lange Jahre Kanzlerin dieses Landes sein sollte. Alle anderen Konkurrenten in ihrer Partei, die noch ungläubig staunten, wie sich diese Frau aus dem Osten Deutschlands auf die Überholspur begeben hatte, wurden dann zügig einer nach dem anderen politisch kaltgestellt: von Roland Koch bis Norbert Röttgen und Friedrich Merz.
All die Lobeshymnen, die jetzt auf Angela Merkel angestimmt werden, sind nicht falsch. Was hat man nicht alles gesehen in den letzten 20 Jahren auf der politischen Bühne Europas oder auch der Welt. Einen amerikanischen Cowboy, der mit verlogenen Argumenten ein immerhin stabiles Land im Mittleren Osten angriff, um dem eigenen Vater zu zeigen, dass er zu Ende bringen könne, was diesem nicht gelungen war. Englische Premierminister, die dankbar mitmarschierten, um ihre besondere Beziehung zu den USA mit Waffen zu dokumentieren. Tony Blair, heute vergessen, aber damals eine der übelsten politischen Erscheinungen seiner Zeit. Seine Nachfolger waren nicht besser. Der Erste riskierte mit einer Abstimmung die Einheit Europas, nur um selber politisch zu überleben, sein Nachfolger vollzog dann den Bruch gerne, er hatte immer dafür geworben.
Oder Frankreich: An Eitelkeit war Nicolas Sarkozy ja nicht zu überbieten. Als er an einem Tisch, an dem er in einer Runde mit anderen Politikern zu sitzen kam, auf einem Metallschild die Ziffer 2 eingraviert fand, ließ er das Schildchen abmontieren, um es durch die Ziffer 1 zu ersetzen. Nicht zu vergessen die polnischen Zwillinge, der schreckliche Orban in Ungarn, von der Türkei oder Russland ganz zu schweigen.
Da war Angela Merkel eine politische Ausnahme. Tatsächlich bescheiden, politisch seriös, eine wirkliche Demokratin, überzeugt von der Einheit Europas, keine Demagogin wie so viele andere in ihrer Zeit. Ernsthaft und fleißig bis tief in die Nacht. Einer ihrer engsten Berater zog sich nach wenigen Jahren zurück, auch weil er mit dem Schlafmangel, den ihr Arbeitspensum verursachte, nicht mehr zurechtkam.
Und noch eines muss man positiv herausstellen. Als Wissenschaftlerin wusste sie, was wissenschaftliche Erkenntnis bedeutet. Dem Relativismus derer, die gerade in Corona-Zeiten alles anzweifelten, widersprach sie energisch, um so dem Grundverdacht, der in dieser Gesellschaft immer stärker grassiert, dass sowieso alles erstunken und erlogen sei, was einem täglich in den Medien oder von der Politik serviert werde, nicht noch zusätzlich Raum zu geben.
Es wurde 16 Jahre lang verwaltet statt gestaltet
Und noch ein Letztes gilt es positiv herauszustreichen. Angela Merkel hat deutlich mehr Herzenswärme und Menschlichkeit, als sie in der Öffentlichkeit zeigen wollte. In Extremsituationen konnte sie das dann nicht mehr verbergen. Etwa damals, als sie im Bundestag sagte, dass es ihr „im Herzen“ wehtue, was Corona gerade mit den alten und einsamen Menschen in dieser Gesellschaft mache. All das war gut, und man ist dankbar dafür, dass uns Politiker wie Donald Trump in Deutschland erspart geblieben sind.
Aber es gibt auch eine andere Seite dieser 16 Jahre, die man nicht aussparen darf. Am gravierendsten: Wo ist eigentlich ein Leitbild, wer wir in dieser Gesellschaft sein oder wie wir in ihr leben wollen? Deutschland wurde in den letzten 16 Jahren eher verwaltet als gestaltet. Probleme wurden immer dann, wenn sie auftauchten, so bearbeitet, dass möglichst niemand einen Schmerz spüren sollte. Eine schmerzfreie Welt sollte das sein, was den Bürgerinnen und Bürgern angeboten wurde. Wie in Watte gepackt. Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen, hat ein Politiker einmal gesagt. Aber wer gar keine hat, dem hilft noch nicht einmal ein Besuch beim Arzt.
Die Laufzeiten der Kernkraftwerke wurden erst einmal verlängert. Als in Japan eines explodierte, stieg man dann doch Hals über Kopf aus. Die Klimakrise wurde immer wieder angesprochen, aber die Autoindustrie durfte doch machen, was sie wollte. Das Ein-Liter-Auto wurde also nicht entwickelt, und erst jetzt gibt es weniger neue Geländewagen und die Elektromobilität, weil es nicht mehr anders geht. Woher der Strom morgen und übermorgen kommen soll, ist noch ein Geheimnis.
Und mehr soziale Gerechtigkeit gibt es heute auch nicht in diesem Land. Ein Drittel der Menschen in dieser Gesellschaft hat Angst, nicht mehr mitmachen zu können, während die Reichen in Deutschland an den Börsen der Welt in Merkels Ära immer noch reicher wurden. Es hätte Mut gebraucht, sich auch mit jenen einmal anzulegen, die in der Wirtschaft Verantwortung tragen, aber doch allzu oft nur auf den eigenen Geldbeutel schauen.
Der Fehler von 2015: Die zerschundenen Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Afrika mit einer Geste ins Land zu winken, ohne vorher zu überlegen, wo das dann enden soll. Schnell tat Merkel hinter den Kulissen alles, was möglich war, um das wieder einzukriegen, aber zugeben kann sie Fehler sowieso nicht, wie man weiß, und diesen schon gleich gar nicht. Heute gibt es die AfD und den Teufelspakt mit Erdogan, weil eine andere Lösung in Europa nicht mehr ging.
Überhaupt die Außenpolitik: Mit Emmanuel Macron fremdelte Merkel lange, als der mehr Europa wollte. Erst jetzt, am Ende ihrer Kanzlerschaft, geht sie offen auf ihn zu. Und ob es nicht doch besser gewesen wäre, Russland stärker in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden, als immer nochmals Sanktionen gegen dieses Land zu verhängen, weil man sich mit Recht empört, dass Mord ein Mittel der Politik sein soll? Viele Experten finden diesen primär moralischen Weg der Politik zwar verständlich, aber nicht zielführend. „Im Zweifel habe wir immer auch mit dem Teufel geredet“, sagt Horst Teltschik, außenpolitischer Berater von Helmut Kohl. Mit Putin war der Gesprächsfaden oft viel zu lange abgerissen.
Der Aufbruch zu einer besseren Gesellschaft
Wegbegleiter der Kanzlerin wurden die bekannten Teddybären: der gutmütige Kanzleramtsminister Helge Braun und der wirkungslose Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Noch ein paar unbekannte Freundinnen hinter den Kulissen, aber ein erkennbares Profil in ihrer Mannschaft wurde weder in der Regierung noch in der Partei aufgebaut. Ralf Brinkhaus wurde gegen ihren Willen Fraktionsvorsitzender von CDU/CSU, weil Teddybär Nummer drei, Volker Kauder, bei den Abgeordneten der Fraktion nicht mehr erwünscht war. Die Politik, die gemacht wurde, war eher sozialdemokratisch, nicht nur, weil die zuständigen Minister der SPD immer mehr an Profil gewannen.
In der Partei gab es am Ende einen Machtkampf zwischen Armin Laschet, Friedrich Merz und Norbert Röttgen. Auch das eher ein Armutszeugnis. Als der farblose Laschet dann die Kanzlerkandidatur für sich beanspruchte, hielt ein Bayerischer Ministerpräsident dagegen. Dass er es fast geschafft hätte, sagt vor allem auch etwas über den Zustand der CDU, die über Jahre von Angela Merkel geführt wurde. Und noch zwei Dinge muss man kritisch anmerken. Wenn es schwierig wurde, hatte Angela Merkel die Methode, das Gespräch so lange zu führen, bis die andere Seite zermürbt war und nicht mehr konnte. Irgendwann in der Nacht muss man doch auch schlafen, wenn man nicht Angela Merkel heißt. Aber kommt bei dieser Taktik wirklich immer die beste Lösung heraus?
Und auch die vielen Kompromisse, die gemacht wurden. Sie waren immer wieder halbe Lösungen, die nicht nachhaltig weiterhalfen, etwa in Wirtschafts- oder Umweltfragen. Man konnte so halt dann am nächsten Tag weiterverwalten.
Das Erbe Angela Merkels – wer oder was ist das? „Erbschleicherei“ sei es, wenn sich Olaf Scholz in die Tradition Merkels stelle. Dabei war es die eher konservative Politikwissenschaftlerin Ursula Münch, die der SPD großes Verantwortungsgefühl bescheinigte, dass sie abermals in eine Große Koalition ging, obwohl sie das nicht wollte, nachdem Schwarz-Grün-Gelb gescheitert war. Warum soll man das nicht für sich reklamieren?
Aber ist es denn mit Blick auf die letzten 16 Jahre überhaupt gut, dieses Erbe für sich zu beanspruchen? Für niemanden gibt es einen völligen Abbruch seiner Geschichte. Weder für einen Menschen noch für ein Land. Für die Zukunft aber braucht es nicht nur die Bewahrung dessen, was bei Angela Merkel gut war, sondern auch einen Aufbruch zu einer besseren, mitmenschlicheren Gesellschaft.
Straubinger Tagblatt vom 25. September 2021