Ich hatte mich verlaufen. Im Bayerischen Wald. Und so stand ich plötzlich – mitten im Wald auf einem verlassenen Weg vor diesem Erinnerungsmal. „Zum Andenken an Jakob Greil – Bauernsohn von Oberbreitenau.“ Gefallen im Mai 1915, 23 Jahre alt, in Galizien. Den „Heldentod erlitten“ so steht es geschrieben. Der Erste Weltkrieg also, im zweiten Jahr. Ich stelle mir den Tag vor, an dem die Nachricht an seine Eltern geht. Die Trauer der Mutter, die Ratlosigkeit des Vaters. Geschwister – sicher, damals, aber dennoch: einer fehlt von jetzt an. Unwiederbringlich.
Galizien, was macht ein Bauernbursch aus dem Bayerischen Wald in Galizien? Wenn ich meine Studierenden frage, wer denn im Ersten Weltkrieg warum gegen wen gekämpft hat: bleiernes Schweigen. Das weiß heute von den jungen Menschen keiner mehr, wie Deutschland an der Seite der österreichischen Monarchie in den Krieg gezogen ist. Die Grenzen von damals sind heute längst Geschichte. Die Soldaten aber damals verführt von den miteinander verwandten Königen und Kaisern Europas, die den Frieden so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatten, bis er am Ende zerbrach.
„Die Schlafwandler“ hat ein bekannter englischer Historiker das hundert Jahre später beschrieben. Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler widerspricht: Allzu gewalttätig sei man ganz bewusst auf diesen Krieg zugesteuert. Und so stand ein armer Bauernbursch aus dem Bayerischen Wald plötzlich verloren in Galizien, also in den Ost-Provinzen der österreichischen K. und K.-Monarchie. Immer wieder hat der vielleicht beste deutschsprachige Prosa-Autor aller Zeiten, Joseph Roth, die Sinnlosigkeit dieses Sterbens gerade in Galizien beschrieben. Am berührendsten im Roman Radetzkymarsch, wo der Held des Textes Leutnant von Trotta am Ende beim Wasserholen von einem Brunnen mit zwei Eimern in beiden Händen in den Kopf geschossen wird und stirbt. Wehrlos. Ahnungslos.
Die endlosen Zeitschleifen des Krieges, seine namenlose Brutalität, die Sinnlosigkeit, wie die Menschen auf allen Seiten dort sterben, keiner hat es je besser erzählt als Joseph Roth, der nicht nur von der Schönheit des Lebens, das er so wunderbar beschreiben konnte wie kein zweiter, trunken war.
Es ist ein Sommertag in den 1970er Jahren. Man hat uns Schülerinnen und Schüler in den Biologiesaal des Humanistischen Gymnasiums in Straubing geführt. Dort kann man die Rollos so schließen, dass kein Spalt Licht durchs Fenster dringt. Draußen pfeifen die Vögel lustig und im Pausenhof fährt der Wind durch die wunderbaren Kastanienbäume. Aber jetzt wird es ganz dunkel und ein Film wird gezeigt: „Im Westen nichts Neues“.
Für Kinder schockierend. Der begeisterte Aufbruch in den Ersten Weltkrieg. Eine ganze Schulklasse macht mit. In zwei Wochen werde man aus der Sommerfrische in Frankreich zurück sein. Dann die Wirklichkeit: das sinnlose Sterben in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Alles ist anders als gedacht oder erhofft. Vier lange Jahre lang. Am Ende stirbt die Hauptfigur des Films, als sie den Kopf etwas zu weit aus dem Schützengraben hebt, um einen Schmetterling zu fangen. Ein Bruder also des Leutnant von Trotta.
Als die Rollos wieder nach oben gehen, betroffenes Schweigen. Von draußen hört man wieder die Vögel und den Wind in den Bäumen, aber alles ist für Augenblicke unwirklich geworden. Es dauert, bis die Sonne wieder in das Klassenzimmer hereinscheint.
Es sind die 1970er Jahre. Über Ostbayern liegt die Angst vor einem neuen Krieg. Die Grenze zum Warschauer Pakt ist nur 60 Kilometer von Straubing entfernt. Wenn um 10 Uhr kurz vor der großen Pause die Sirenen ihren Probealarm ertönen lassen, wird auch uns Schülerinnen und Schülern bewusst, dass der Frieden ein Geschenk ist, das nicht selbstverständlich ist. Und unser Kunstlehrer Karl Tyroller lässt uns im Zeichensaal im zweiten Stock das Wort „Frieden“ malen. Ihm sei bewusst geworden, wie wertvoll der Frieden sei. Es müsse nicht immer etwas geschehen, was der Künstler dann malen oder gestalten wolle; dass der Krieg nicht da sei, sei genug des Geschehens und wert, gezeichnet oder gemalt zu werden. Dann ist schon wieder Mittag und wir gehen alle heim in unsere Familien. Es ist Frieden.
„Den Heldentod erlitten“, so steht es auf dem Erinnerungsmal des Bauernburschen Jakob Greil vor über 100 Jahren. So hat auch noch der englische Premierminister Tony Blair gesprochen, wenn seine toten Soldaten aus dem Irakkrieg in Zinksärgen nach Hause kamen: „They gave the biggest sacrifice of all – their life“ (Sie gaben das höchste Opfer, ihr Leben), so sagte er es regelmäßig mit ernster theatralischer Miene in die auf ihn gerichteten Kameras. Er, der Lügner an der Spitze eines europäischen Landes mit so viel jahrhundertealter Kultur. An der Seite Amerikas zog er geltungssüchtig in den Irakkrieg, der auf einer Lüge basierte und so sinnlos war wie alle Kriege vor ihm. Sein Nachfolger Boris Johnson, der größte Lügner von allen, war es dann, der im April 2022 nach Kiew reiste und den ukrainischen Präsidenten auf die Fortführung des Krieges gegen Russland einschwor.Im Namen des Westens, den er vorgeblich vertrat.
Jetzt schreiben die Zeitungen, allen voran „Der Spiegel“ (Ausgabe vom 11. Oktober) und die „Süddeutsche Zeitung“ (Ausgaben vom 11. und 12. Oktober), dass der Krieg wohl bald enden wird. Weil alle erschöpft sind. Mehr als eine Million Tote später. Die Grenzen eines brüchigen Waffenstillstands mit einem dann folgenden brüchigen Frieden sollen in etwa so verlaufen, wie es die Verhandlungen von Istanbul damals vor zwei Jahren vorsahen, so schreibt es „Der Spiegel“.
Der erste Tag des Einmarschs der israelischen Armee im Gaza-Streifen. Eingepfercht auf engstem Gebiet leben dort seit Jahrzehnten die Palästinenser. Gegen das, was jetzt kommt, sind sie chancenlos. Die Krieger werden kämpfen, aber sterben, das Leiden der Zivilbevölkerung ist zahl- und namenlos. Aber schon am ersten Tag sterben auch die zwei einzigen Söhne von zwei jüdischen Familien, die mir bekannt sind. Menschen, die auch in Deutschland oder Frankreich leben könnten. Studiert haben sie, liebevolle, kultivierte Zeitgenossen, die mit dem Krieg nichts am Hut haben wollten, aber jetzt nicht mehr leben. Am ersten Tag des Krieges sterben sie beide. Menschen, die uns im Herzen verwandt sind. Familien, die leben und fühlen wie wir. Verraten von ihrem eigenen Premierminister, der nicht nur das Opfer von Tausenden Palästinensern bewusst in Kauf nimmt, um selber an der Macht zu bleiben, sondern gerade auch die verrät, die ihm in seinem eigenen Land anvertraut sind.
Das Spiel der Macht. Gerade erst ist der Krieg begonnen, doch schon bald wird Benjamin Netanjahu auch den Libanon angreifen und Ziele im Iran zerbomben. Hunderttausende werden auf der Flucht sein, aber er wird im Fernsehen jeden prominenten getöteten Hamas- oder Hisbollah-Krieger als Trophäe zelebrieren, als würden nicht für den gerade getöteten Feind gleich zwei oder noch mehr nachkommen wie bei der vielköpfigen Hydra, der für einen abgeschlagenen Kopf immer sofort mehrere Köpfe nachwachsen. Mit noch mehr Hass und noch mehr namenloser Wut.
Und wir selbst? Noch immer sitzen in den Talk-Shows der Fernsehmoderatoren, die über den Boulevard-Weg Karriere gemacht haben und sich jetzt für Politikexperten halten, dieselben traurigen Gestalten – von Roderich Kiesewetter bis Carlo Masala – und führen täglich neu vor, dass man aus der Geschichte auch nichts lernen kann. Und im Feuilleton einer großen deutschen Wochenzeitung dürfen die Rüstungsmanager seitenlang erklären, wie sie die Lage der Welt erleben und welche Empfehlungen sie geben, während der Kurs ihrer Aktien so unglaublich steigt.
Boris Pistorius, der rustikale Verteidigungsminister, der so wirkt, als wäre er geradewegs dem Handbuch des deutschen Michel entsprungen, ist gleich Lieblingspolitiker der Deutschen, die sich nach schnellen und aggressiven Lösungen von Konflikten sehnen.
Und Friedrich Merz, frischgekürter Kanzlerkandidat der früheren christlichen Parteien, empfängt als eine seiner ersten Amtshandlungen die versammelten Rüstungsmanager zur Diskussion, weshalb die Waffenexporte nach Israel stocken, um mit solchem Verhalten den Kanzler unter Druck zu setzen – und das auch noch mit Erfolg. Immerhin am Rande der Talk-Shows dürfen noch ab und zu Gregor Gysi, Rolf Mützenich oder mittlerweile sogar Oskar Lafontaine sitzen.
Mit ihrer Haltung, die nicht nur Waffen zur Voraussetzung von Politik hat, immer alleine gegen alle anderen und den oder die Moderatorin. Immerhin werden sie nur mühsam zum Schweigen gebracht.
Wenn man Jahre später unsere Zeit im Nachhinein von außen betrachten wird, wird man dankbar sein, dass sie wenigstens da waren!
Straubinger Tagblatt vom 1. November 2024