Das Renaturierungsgesetz würde EU-Länder dazu verpflichten, Teile der zerstörten Natur wiederherzustellen. Sozialdemokraten und Grüne sehen ohne das Renaturierungsgesetz den europäischen Green Deal gefährdet und somit auch das Klimaschutzpaket, mit dem die EU bis 2050 klimaneutral werden will. Die Konservativen um Manfred Weber (EVP) blockieren das Gesetz bislang und sprechen von „zu viel Naturschutz“.
Wir haben mit zwei Experten gesprochen, die sich mit globaler Ökologie beschäftigen: Johannes Wallacher, Professor für Sozialwissenschaften und Wirtschaftsethik an der Hochschule für Philosophie in München mit dem Arbeitsgebiet wirtschaftsethische Fragen der Globalisierung und der Nachhaltigkeit sowie Martin R. Stuchtey, Unternehmensberater und Gründer von The Landbanking Group, die weltweit Böden evaluiert und in Erhalt und Restaurierung investiert.
Deutschland steht vor einem gewaltigen ökologischen Umbau, der anscheinend auch viele überfordert. Wir sind für zwei Prozent der globalen CO 2 -Emissionen verantwortlich – unser Einfluss ist global also sehr gering. Warum müssen wir schnell handeln?
Johannes Wallacher: Wir sollten der Welt zeigen, wie wir Ressourcenschutz und Wohlstandssicherung zusammenbringen, das ist die große Verantwortung, die wir haben. Wir müssen ein Modell präsentieren, das auch für andere attraktiv ist, die von der Veränderung im Klima und Artenschwund noch stärker betroffen sind als wir.
Martin R. Stuchtey: Die Zwei-Prozent-Debatte ist eine ethische Entgleisung. Wir sind ein Prozent der Weltbevölkerung, produzieren zwei Prozent der Emissionen und haben fünf Prozent der historischen Emissionen auf unserem Buckel. Die Menschheit hat ein Budget von ungefähr 3 000 Gigatonnen Emissionen, davon sind schon 2 500 verbraucht. Die verbleibenden 500 sind noch übrig für die ganze große Welt da draußen und ihre Zukunft. Und die Deutschen wollen noch immer ihren gleichen, viel zu großen Anteil daran haben.
Was passiert, wenn wir weiter verharren?
Stuchtey: Ein Beispiel: Wir haben vor über zehn Jahren in den Vorständen der deutschen Automobilindustrie diskutiert, ob sie nicht viel schneller elektronische Antriebe und neue Mobilitätskonzepte angehen sollte. Das wollte die Industrie aber nicht – mit weitreichenden Folgen. Im Verbrennersektor hatten die Deutschen einen zweistelligen Prozentanteil auf dem chinesischen Automarkt, bei Elektroautos aktuell nur noch vier Prozent. Wir haben die Entwicklung und damit den Markt der Zukunft verschlafen. Das ist für die nächste Generation deutscher Ingenieure eine schlechte Nachricht. Was wir jetzt im Zuge des grünen Umbaus machen würden, ist nicht nur eine Investition in das Weltklima, sondern auch in unsere eigene, zukünftige Wettbewerbsfähigkeit. Die meisten dieser neuen Technologien sind Null-Grenzkosten-Technologien. Das heißt, wenn wir uns einmal auf die andere Seite der Energiewende geworfen haben, dann wird die nächste Generation in Bezug auf die Energiepreise international wettbewerbsfähig sein.
E-Autos und Wärmepumpen erhöhen unseren Stromverbrauch in hoher Geschwindigkeit. Es gibt viele Skeptiker. Wir brauchen vielleicht nicht die Verzögerungstaktik der Union, aber ein realistisches Zeitfenster, wie der Umbau funktionieren soll.
Stuchtey: Retrospektiv betrachtet haben wir viel zu lange gewartet. Aber da die Vergangenheit als Gestaltungsraum nicht zur Verfügung steht, müssen wir nach vorne schauen, den Ausbau der erneuerbaren Energie massiv beschleunigen und auch am Verbrauch arbeiten. Das tut man halt nicht, indem man den Verbrennermotor durch die Batterie ersetzt, sondern indem man individuellen Automobilbesitz durch andere Mobilitätsmodelle ersetzt und nicht versucht, ein Lastenfahrrad ideologisch zu verteufeln, anstatt es als eine interessante Erweiterung unserer Mikromobilitätsangebote zu begreifen. Und am Schluss muss man auch sein Verhalten ändern.
Sie meinen Mobilitätsverzicht?
Stuchtey: Im Augenblick subventioniert die Gesellschaft den verschwenderischen Lebensstil.
Wallacher: Und die zukünftigen Generationen subventionieren unseren Lebensstil noch viel stärker. Über Energiewende und Klimawende wird viel diskutiert, viel weniger im Fokus allerdings stehen die noch essenzielleren Themen Wasser und Boden. Das ist die politisch heikle Frage, die aktuell in der EU verhandelt wird. Manche behaupten, wir könnten uns Artenschutz und Renaturierung nicht leisten, weil das die Welternährung gefährden würde. Das ist wissenschaftlich völliger Humbug. Weniger als 20 Prozent der Getreideherstellung gehen in die Ernährung, der Großteil wird für Tierfutter verwendet.
Stuchtey: Die wichtigste Entscheidung für uns als Gesellschaft ist die Nutzung des Bodens. Wir haben unterschiedliche Produktionsoptionen und im Augenblick entscheiden wir uns überwiegend für ein Modell der extraktiven Nutzung im Rahmen der konventionellen Agrarwirtschaft. Dabei kann jeder Quadratmeter mehr wirtschaftlichen gesellschaftlichen Wert liefern: Hochwasserschutz oder -reinigung, Kohlenstoffspeicherung, Humusaufbau oder Biodiversität. All diese Optionen müssen wir bei einer Landnutzungsentscheidung im Auge haben.
Wallacher: Was fördert Europa künftig, muss die Frage sein. Momentan werden nicht die Dinge gefördert, die etwa die Bodengesundheit gewährleisten, den Artenschutz sichern. Wir belohnen nicht das, was man ökosystemare Dienstleistung nennt, also dass die Bauern ihre Böden so nutzen, dass sie Wasser halten, Humus bilden, Treibhausgase binden und damit den Klimawandel mindern. Wir bezahlen rein nach Fläche. Das ist der große Punkt, den wir falsch machen, und wo wir auf der europäischen Ebene sehr wohl einen Hebel hätten. Das aktuelle Fördersystem bevorteilt überproportional Großflächenbesitzer. Gefördert wird aber nicht die Nutzung, sondern der Besitz, das ist ein ethischer Unterschied. Das politische Ziel kann nur die Umstellung des Fördersystems auf eine Landwirtschaft sein, die die vielfältigen Funktionen und ökosystemaren Dienstleistungen sichert.
Das Renaturierungsgesetz wäre ein Schritt in die richtige Richtung?
Wallacher: Auf jeden Fall, das ist ja auch ein Teil, zu dem sich Europa und die Welt im Montrealer Artenschutzabkommen im Dezember 2022 verpflichtet haben. Das sind wir auch der jungen Generation gegenüber schuldig.
Warum will Manfred Weber als EVP-Vorsitzender im europäischen Parlament das Gesetz verhindern?
Stuchtey: Er sagt ja, es gebe handwerkliche Fehler, das kann man immer sagen. Er sagt, dies sei ein Angriff auf die Bauern, aber das ist falsch. Wir haben zwischen 2005 und 2020 rund 40 Prozent der bäuerlichen Betriebe in Europa verloren. Da kann man nicht behaupten, dass der Status quo dauerhaft den Berufsstand sichere.
Wallacher: Die CSU hat nach dem Volksbegehren zum Schutz der Bienen beim runden Tisch mit der Landwirtschaft genau die Dinge besprochen, die derzeit mit dem Renaturierungsgesetz kommen sollen. Das wäre gerade für die kleinteilige bayerische Landwirtschaft ein enormer Vorteil. Insofern steht Weber eigentlich konträr zur CSU.
Stuchtey: Parteipolitisch ist das doch ein Schuss ins Knie, wenn man sich als CSU als Anti-Biodiversitätspartei positioniert. Das kann man langfristig nicht durchhalten.
Wie ernst ist die Aussage von Experten, man habe noch 50 bis 60 globale Ernten, bis die Böden endgültig tot sind?
Stuchtey: Denken Sie an den sauren Regen: Alle haben geschrieben, dass Wälder sterben – aber es gibt sie immer noch. Allerdings haben wir in dieser Phase die Stick- und Schwefeloxide um 95 Prozent zurückgefahren. Wir haben gehandelt! Der Biodiversitätsverlust ist allerdings schlimmer als wir ihn noch vor zehn Jahren prognostiziert haben. In meiner Firma messen wir mit Hilfe von Satellitentechnologie Bodenerosion. Die ist weltweit sichtbar, übrigens auch stark bei uns. Noch schlimmer ist das Absterben der Bodenmikrobiome, der Boden ist dann tot. Die verbleibenden Bodenbakterien werden dann von CO 2 -Absorbierern zu Methanschleudern, eine Klimagasbombe in unseren Flächen.
Wallacher: Es gibt wenige Bereiche, die so gut erforscht sind wie der Klimawandel, der massiv voranschreitet. Aber auch andere planetarische Belastungsgrenzen wie der Verlust der Artenvielfalt oder der Wasservorräte sind gefährlich überschritten. Es muss jetzt darum gehen, dass wir das Unbewältigbare vermeiden und das Unvermeidbare bewältigen können, das ist die ethische Perspektive.
Welche Verantwortung hat der einzelne, der lieber im Supermarkt das billigste Produkt kauft, oder in den Urlaub fliegt? Auch von den 1,1 Millionen Tonnen Lebensmitteln, die in Deutschland jährlich weggeschmissen werden, gehen 60 Prozent auf die Kappe der Verbraucher.
Wallacher: Wir leben in einem komplexen System, wo wir es uns nicht mehr erlauben können, uns die Verantwortung gegenseitig zuzuschieben. Insofern haben auch wir als Konsumenten im Hinblick auf die Ernährung eine immense Verantwortung. Geiz ist nicht geil. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass gesunde und verantwortungsvoll erzeugte Produkte einen hohen Wert haben und den müssen wir entsprechend bezahlen. Und wir müssen als Gesellschaft anerkennen, dass Landwirte nicht nur Produktionsbetriebe sind, sondern auch Pfleger und Bewahrer des Bodens.
Stuchtey: Wir brauchen einen Perspektivwechsel: Wir müssen Natur als Wohlstand anerkennen und dass wir uns reich fühlen, wenn wir dauerhaft Zugang zu essenziellen Leistungen wie Luft, Kühlung, Wasser oder Boden haben – da müssen wir auch reininvestieren.
Wallacher: Nach unserer derzeitigen Bemessung des Bruttoinlandsprodukts ist die Beseitigung eines Umweltschadens immer noch wohlstandssteigernder als die Prävention eines Umweltschadens.
Herr Stuchtey, Sie haben jahrelang Unternehmen beraten. Wenn Sie Politikberater wären, würden Sie Herrn Merz dann raten, die Grünen als Hauptgegner der Union zu definieren, wie er es getan hat?
Stuchtey: Wenn man beim Thema Klima keine saubere, progressive Positionierung hat, hat man sich entschlossen, ein Rückzugsgefecht anzutreten. Man kann auf Gesetzen, Maßnahmen oder Formen des Aktivismus herumhacken, aber eine Anti-Naturrestaurierungs- und Pro-Verbrenner-Positionierung ist die größte Sackgasse, die man sich politisch bauen kann. Was wir brauchen, ist einen Wettbewerb der Zukunftsideen.
Interview: Prof. Dr. Martin Balle und Volker Isfort
Straubinger Tagblatt vom 30. Juni 2023