„In der Strafkolonie“ heißt die grausame Erzählung, mit der der jüdische Schriftsteller Franz Kafka Fragen von Schuld, Strafe und Gerechtigkeit umkreist. Es ist eine schreckliche Foltermaschine, in die die Verurteilten in der Strafkolonie eingespannt werden. Was immer sie getan haben, mit einer Egge wird ihnen das Gebot, das sie übertreten haben, buchstäblich auf den Leib geschrieben. Ein unbarmherziges Verfahren, das immer mit dem Tod des Delinquenten endet, ganz gleich, was er Schlimmes oder weniger Schlimmes getan hat.
Grauenhaft, unbarmherzig ist es, was dort in der Strafkolonie geschieht. Aber der Offizier, der diese Foltermaschine bedient, ist begeistert, als er von den vollzogenen Strafen unter den Augen zahlreicher Zuschauer berichtet: „Die Exekution! Kein Misston störte die Arbeit der Maschine. Manche sahen nun gar nicht mehr zu, sondern lagen mit geschlossenen Augen im Sand; alle wussten: Jetzt geschieht Gerechtigkeit.“ Ein unmenschliches Verfahren, das scheinbar Gerechtigkeit herstellt. Weil der Reisende, der als Außenstehender die Strafkolonie besucht, aber die Absurdität eines solchen Gerichts- und Gerechtigkeitsverfahrens erkennt und voller Entsetzen sagt: „Ich bin ein Gegner dieses Verfahrens“, legt sich der enttäuschte Offizier selbst auf das Folterbett.
Der Widerspruch des zivilisierten Bürgers und Reisenden wird ihm zum eigenen Schuldspruch, den er am Ende gegen sich selbst vollzieht. Das Urteil, das er sich mit den tödlichen Nadelstichen der Foltermaschine auf seinen Leib eingravieren lassen will, lautet deshalb: „Sei gerecht!“ Aus der Frage nach Schuld, Urteil und Gerechtigkeit wird bei Franz Kafka in dieser Erzählung am Ende ein sadomasochistisches Schauspiel, das für alle an diesem schrecklichen Verfahren Beteiligten tödlich endet. Mit dieser Erzählung karikiert Kafka in genialer Weise eine Welt, die mit in Stein gemeißelten Gesetzen Recht, Moral, Gesetz und Gerechtigkeit einfordert. Verfahren, die eine Welt der Gerechtigkeit erbarmungslos verfolgen, werden am Ende zu Foltermaschinen, die allen Beteiligten schaden – so lässt sich Kafka hier ausdeuten.
Ein Gegenbild zu dieser Erzählung ist Jesus, dem eine Frau gebracht wird, die die Ehe gebrochen hat. Wer ohne Schuld sei, werfe den ersten Stein, sagt er dann. Alle Ankläger gehen schweigend davon. „Hat dich keiner verurteilt?“, fragt Jesus – und als die Frau verneint: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr.“
Im Gegensatz zur Foltermaschine des Offiziers bei Franz Kafka oder den in Stein gemeißelten Gesetzen von Recht und Moral schreibt Jesus, während er von den aufgebrachten Pharisäern um ein Urteil gefragt wird, in den Sand der Erde. Hier geschieht nicht mehr nur Gerechtigkeit, sondern die sprichwörtliche Gnade, die von der Botschaft des Evangeliums im Kern ausgeht.
Der bekannte Münchner Autor und Familientherapeut Wolfgang Schmidbauer weiß, dass in jedem Menschen bei erlittenem Unrecht Hass und Rache intuitiv ausgelöst werden. Ein „menschliches Verhaltensmuster, das man nur schwer kontrollieren kann“, wie er es in einem großen Text in der Süddeutschen Zeitung vor kurzem beschreibt. Drei Strategien gebe es, um dem Teufelskreis aus Schuld und Rache zu entkommen und Frieden zu erlangen. Die erste: die Sprache der Vernunft. Die Welt des Rechtsstaats, der Justiz, des Gerichts. Allerdings würde ein solches rechtsstaatliches Verfahren, möge es noch so gut sein, „das Gerechtigkeitsempfinden“ am Ende nicht befriedigen. Die Verletzungen der Seele blieben: „Vom Gericht bekommen Sie ein Urteil, keine Gerechtigkeit“, so der Psychotherapeut. Möglichkeit Nummer zwei ist Trauer, aber: „Sie ist ein langsames Gefühl, sie braucht Zeit, um sich zu finden und sich selbst zu verstehen, anders als Angst, Wut und Rachedurst.“ Also ein schwieriges Unterfangen; und vor allem bleibt die Frage: Macht eine solche Haltung nicht passiv? Wer versichert mir denn, dass mir als Trauerndem nicht erneut Unrecht geschieht, weil ich mich nicht wehre? Das sind berechtigte und begründete Fragen!
Aber Schmidbauer beschreibt noch einen dritten Weg zum Frieden: „Die dritte Möglichkeit ist mir im Lauf meiner Arbeit mit Paarkonflikten immer wichtiger geworden, obwohl ich sie als junger, ehrgeiziger Therapeut eher verachtet habe: das Ausblenden, indem man so tut, als ob die Kränkung gar nicht passiert wäre, die nach Rache schrie. Diese Lösung besinnt sich darauf, dass alle Menschen gemeinsame Interessen haben: Sie wollen freundlich geben, wo sie sich freundlich empfangen fühlen. Primär ist die Liebe, nicht der Hass. Ohne die Liebe überlebt kein Kind; gäbe es ein Primat von Hass in der Welt, wären die Menschen ausgestorben.“
Von Religionsphilosophen hört man zum Thema Liebe und Hass oft diesen Satz: „Das Christentum hat eine Moral, aber es ist weit mehr als eine Moral!“ Gemeint ist damit, dass mit der Lebensgeschichte von Jesus, die an Weihnachten beginnt und am Ostersonntag endet, eine neue Zeitrechnung beginnt, die im Zeichen von Liebe, Vergebung und Versöhnung steht. Die den endlosen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt durchbricht. In diesem Sinne bezieht der Psychotherapeut Schmidbauer seine therapeutischen Lösungsstrategien auch auf die Welt der Politik, wenn er schreibt: „Nach den Morden der Hamas hat es Stimmen gegeben, die meinten, ‚Diese Täter sind keine Menschen, das sind Tiere.‘ Wer so spricht, hat weder Tiere noch Menschen verstanden. Kein Tier würde die eigene Sicherheit und Bequemlichkeit opfern, um sich zu rächen. Nur manche Menschen befriedigt es, sich zu rächen, selbst um den Preis des irdischen Lebens.“ Das kennt jeder: ein Ehepaar, das den Scheidungskrieg zelebriert und über Jahre alle Freunde in diese Thematik miteinbezieht, ob die wollen oder nicht. Der berühmte Nachbarschaftsstreit. Über Jahrzehnte kann das gehen, bis am Ende tatsächlich der eine Nachbar den anderen tötet. Da ist ein Leben schnell vorbei. Im Rückblick war es dann nicht viel mehr als der Streit mit dem einen Anderen, auf den man sich über Jahre fixiert hat.
Christ-Sein heißt Befreit-Sein von solchen Fixierungen. Neu beginnen dürfen, auch wenn man verletzt wurde und um diese Verletzung weiß. Die andere Wange hinzuhalten ist nicht nur Passivität, sondern Zeichen und Frage an den Anderen: Soll Gewalt wirklich unsere Beziehung bestimmen? Es bedeutet, neue Lebenszeit zu gewinnen – jenseits von Gewalt, Rache und Gegengewalt. Aussteigen aus toxischen Beziehungen und dem Kreislauf des Bösen.
Aber lässt sich das auch auf Politik und den Krieg zwischen Ländern und Nationen übertragen? Im Ukraine-Krieg war man recht am Anfang schon fast am Ende. Es gab auf beiden Seiten den Willen zum Kompromiss. Dann kam Butscha und der brutale Mord an Hunderten unschuldigen Zivilisten. Auf dieser Basis könne man keinen Frieden schließen, so die Stimmen in der Ukraine, aber auch in der westlichen Welt. Wirklich? Was geschehen ist, ist geschehen, so schlimm es ist. Die Toten, die dann folgen, sind die, die ihr Sterben der Tatsache verdanken, dass es damals keinen Frieden gab. Dass der Hass und der Kreislauf der Gewalt nicht aufgehalten wurden, sondern immer neue Nahrung bekamen, wie ein Feuer, das weiter brennen soll. Ist das wirklich eine bessere Moral als die Friedfertigkeit, die vom Christentum ausgeht – eben genau jenseits der Welt der Moral und der Frage nach einer letzten Gerechtigkeit schon in dieser Welt?
Die Putins, Selenskyjs, Netanjahus dieser Welt und die namenlosen Terroristen der Hamas leben den zynischen Gegenentwurf zur Heilsbotschaft des Christentums. Sie sind unterwegs in eigener Mission, die sie geschickt mit dem Interesse ihres Landes verkleiden. Sie sprechen primär die Sprache der Gewalt und werden gewählt – wo sie überhaupt gewählt werden – von denen, die Angst haben und meinen, nur ein vorgeblicher starker Führer, der aus der Gewalt lebt oder Gewalt mit Gewalt beantwortet, kann ihnen Sicherheit bieten.
Natürlich ist das Kitsch, wenn das Jesus-Kind in der Krippe liegt und die Hirten die Einzigen sind, die verstehen, was da geschieht. Und am Ende kommen auch noch die Heiligen Drei Könige. Aber wer weiß: vielleicht war es am Ende doch so, oder wenigstens so ähnlich. Die Botschaft jedenfalls, die davon ausgeht, die klingt durch bis in unsere Tage. In der Unschuld eines Kindes und auch in der bewussten Wehrlosigkeit dieses Kindes 30 Jahre später am Kreuz wird das wahr, was Jesus in seiner Lebenszeit damals in Galiläa gelehrt und gewirkt hat.
Es bleibt eine lebendige Gegenwelt zu der Welt, die unsere Gegenwart jeden Tag in allen Nachrichten prägt. Weihnachten bleibt Inspiration für all die, die nicht bereit sind, den Irrsinn von brutaler Macht, Krieg, Gewalt, Gegengewalt und Töten in allen möglichen und kaum vorstellbaren Formen widerspruchslos zu akzeptieren.
Straubinger Tagblatt vom 16. Dezember 2023