Der Besuch kam unverhofft. Meinem alten, längst pensionierten Lateinlehrer war es über Beziehungen zur Haushälterin von Georg Ratzinger tatsächlich gelungen, für seinen Freund, den Karmelitermönch Pater Englmar, zu dessen 90. Geburtstag eine Privataudienz zu bekommen. Bei Papst Benedikt XVI. In Rom. Der war zwar längst zurückgetreten, aber das war dann doch ein besonderes Geschenk!
Und jetzt trauten sie sich also nicht alleine auf die weite Reise nach Rom. Der Mönch und der Lehrer. Der Flug, die Strapazen, das Ungewisse. So wurden wir also eingeladen mitzukommen. Markus Pannermayr, immer noch junger Oberbürgermeister der Stadt Straubing, und ich, der Rom liebt und vor Jahren sogar Latein studierte. In München war ich Ratzinger niemals begegnet. Dass jetzt diese Begegnung im ganz kleinen Rahmen möglich würde, war mehr als spannend.
So also die Lebenswende hin zum Konservatismus
Auf dem Hinflug ging mir nochmals alles durch den Kopf, was ich über den Mann wusste. Sein früher Aufbruch ins Offene und Liberale beim Zweiten Vatikanischen Konzil an der Seite von Hans Küng, der später liberal blieb. Dann der Bruch im Denken: Die Gewalt, die 1968 die Universitäten erschütterte. Vorlesungen mussten abgebrochen werden, Professoren wurden niedergeschrien, Autoritäten buchstäblich von der Kanzel gestoßen. Das war zu viel für einen Mann, der als Professor im Denken und Sprechen zu Hause war. So also die Lebenswende hin zum Konservatismus. Auch ein lebenslanges Misstrauen, das jetzt blieb und ihn unnahbar und fast unmenschlich machte.
Meine Reise nach Freiburg am Ende seiner Zeit als Papst. In seinem Vortrag für die geladene Öffentlichkeit streift er die immer drängenderen Probleme des massenhaften Missbrauchs in seiner Kirche mit nur einem Satz. Eine Fußnote, die das große Ganze nicht beschmutzen soll. Ich verstehe ihn, mir ist allerdings auch klar damals, dass das so nicht aufgehen wird. Immerhin sein Sprechen von einer „armen Kirche“, die alleine Zukunft habe, das wird am nächsten Tag in allen Zeitungen stehen.
Sein großer Beginn am Anfang kurz nach seiner Wahl. „Deus caritas est“ heißt die erste Enzyklika, die von der Liebe Gottes zu den Menschen und den Menschen untereinander handelt. Ein großer Wurf, der Hoffnung macht. Dann Enttäuschungen. Enzykliken, denen der Bruch im Denken, der aus der Angst kommt, anzumerken ist. Seine Reise nach Übersee, dort Gespräche mit Missbrauchsopfern, aber nur ausgewählte. Im Radio sprechen die, die von Anfang an nicht gehört werden sollten. Ein Papst, der die raue Wirklichkeit kaum ansehen mag, sie kaum aushält. Der spürt, dass so vieles wegschwimmt, was die Würde und Kultur der Menschen ausmacht. Mit allem, was er tut und schreibt, beschwört er nochmals eine Welt herauf, die in der digitalisierten Postmoderne längst unterzugehen begonnen hat. Ein alter Papst. Ein angstvoller Papst. Ein armer Papst.
Es geht fast nur um den Straubinger Tiergarten
Und jetzt stehen wir schon vor seinem kleinen Kloster mitten im Vatikan. Geöffnet wird die Tür von einer Klosterschwester, die uns mit breitem Lachen sagt, wie sehr sich der alte Mann freue, Freunde aus seiner alten Heimat zu begrüßen. Eine letzte Treppe noch, eine zweite Klosterschwester öffnet die Tür zu seinem Privatgemach und gibt den Blick frei auf Benedikt XVI., der da sitzt und den Blick neugierig auf seine Gäste richtet. Mit einem Knopfdruck bewegt sich der Stuhl des alten Mannes nach oben und kippt ihn nach vorne auf den Rollator zu, der ihm das kurze Stehen zur Begrüßung noch erlaubt. Er schüttelt vorsichtig unsere Hände, bevor er sich wieder mühsam setzen kann.
Das Gespräch? Es geht fast nur um den Straubinger Tiergarten. Der alte Papst hat genau verfolgt, dass die Tigerbabys zur Welt gekommen sind, und bedauert es aus ganzem Herzen, dass er die nicht mehr wird besuchen und sehen können. Er fragt nach seiner Heimat, nach Bayern, nach München, nach Regensburg. Bilder der Erinnerung. Einsamkeit. Am Ende darf der alte Karmelitermönch noch eine halbe Stunde alleine mit Benedikt sprechen. Auf dem Heimflug wird er sagen, dass das eine der schönsten halben Stunden seines Lebens war.
Zurück in Straubing lasse ich Fotos machen. Von den Tigerbabys. Hunderte. Die schönsten davon schicken wir nach Rom. Ein paar Wochen später erhalte ich selber Post aus Rom. Zwei Fotos von Benedikt. Fein signiert, mit Gottes Segen versehen. Ein letzter Gruß des alten Mannes, der sich in der ganz neuen Zeit nicht mehr zurechtfand.
Straubinger Tagblatt vom 2. Januar 2023