Leitartikel: Weihnachten 2024 – Gottes Hilfe und Handeln Eingang geben

Als im Jahr 1989 die friedliche Revolution in der damaligen DDR zur Wiedervereinigung führte und auch sonst in den Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts die Freiheitsbewegungen sich zu einem großen Teil durchsetzten, begannen damals Philosophen und vor allem Theologen von einem „Eingriff Gottes in die Geschichte der Menschen“, so wörtlich, zu sprechen.

Denn was war nicht alles geschehen über die Jahre vorher, sodass Hindernisse wie fallende Dominosteine aus dem Weg geräumt wurden. Alles hatte begonnen mit einem Arbeiterführer in Polen, in den Werften von Danzig in den 70er-Jahren. Lech Walesa hieß der Mann damals. Mutig protestierte er für soziale Fortschritte, stand auf gegen den scheinbar übermächtigen Staat. Das war ein politisches Signal damals, das weithin sichtbar leuchtete. Und dann? Gewählt wurde ein Papst aus Polen. Undenkbar vorher, wo doch die Italiener dieses Amt fortwährend für sich reklamierten. Auch das ein sichtbares Zeichen in eine neue Zukunft hinein. Was in Moskau folgte, schien erst recht wie ein Wunder: Mit Michail Gorbatschow kam ein Mann an die Macht, der nicht nur Menschlichkeit ausstrahlte, sondern sie auch zu seinem politischen Programm machte. Frieden und Freiheit waren plötzlich die sichtbaren Zeichen am Horizont der Geschichte. Der Rest ist bekannt: Ein desorientiertes Mitglied des Politbüros der sich gerade auflösenden DDR erklärt auf den Bildschirmen der Welt, dass die Ausreise in den Westen „ab sofort“ möglich sei. Was für ein Drama in mehreren Akten – und das auch noch mit gutem Ausgang. Wann hätte es das vorher in vergleichbarer Weise gegeben? Ist es da nicht naheliegend von einem „Eingriff Gottes in die Geschichte der Menschen“ zu sprechen?

Aber die Gegenfrage stellt sich doch sofort! Warum greift Gott hier ein – und nicht sonst, oder gar immer? Und noch viel dramatischer: Wo war Gott in Auschwitz? Sechs Millionen ermordete Juden! Der verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki formulierte das in seinem lebenslangen Zorn immer sehr pointiert: „Gott gab es nicht – oder er war bei den Anderen!“ Das ist ein mehr als begründeter Einwand gegen die Rede von Gottes Eingreifen in die Geschichte des Menschen. Aber fragen muss man dann doch auch: Hat Gott überhaupt keinen Zugriff auf diese seine Welt, die er doch nach christlichem Glauben am Anfang aller Tage geschaffen hat? Gibt es denn dann gar keinen Heiligen Geist, der nach christlichem Glauben schon auch diese Welt durchwaltet?

Heiner Wilmer, Bischof von Hildesheim, ist vom Leben und Schreiben der Jüdin Etty Hillesum so fasziniert, dass er sich bei einem meditativen Rückzug an einem einsamen Ort in einen fiktiven Briefwechsel (Heiner Wilmer, Herzschlag, Herder 2024) mit dieser jungen Frau, die 1943 in Auschwitz ermordet wird, vertieft. Er ist zutiefst berührt von einer Frau, die in den Schrecken des Dritten Reichs nur ein Ziel hat: sich nicht vom Hass der Anderen anstecken zu lassen. Und so schreibt der Bischof: „Und wenn es in der nationalsozialistischen Barbarei nur einen gerechten Deutschen gäbe? Das zu denken, ist deine Stärke. Das imponiert mir … Wenn du in der Lage bist, bei allem Schrecklichen und Grausamen des anderen Menschen in ihm noch einen Funken Menschlichkeit zu sehen, vielleicht etwas Gutes oder Wahres oder Schönes, dann gibt es Hoffnung, dann ist Versöhnung möglich … Auf keinen Fall darf der Hass dein Inneres bezwingen, dein Herz dominieren … Abgrundtiefer Hass richtet sich am Ende immer gegen uns selbst. Wenn unser Hass den anderen zerstört, zerstört er uns selbst. Ich glaube, Etty, und da stimme ich dir zu, hier berühren wir das Geheimnis der Feindesliebe.“ Etty Hillesum wird keine 30 Jahre alt werden, aber es gelingt ihr, bis zu ihrem Tod, bei sich selbst zu bleiben und sich so nicht vom Hass der Anderen infizieren zu lassen.

Wenn wir die Geschichte vom Eingreifen Gottes in diese Welt jetzt von dorther anschauen, ergibt sich nochmals eine ganz andere Perspektive. Gott war also schon auch in Auschwitz; aber nur deshalb, weil eine junge bewunderungswürdige Frau ihn dort in ihr Herz gerufen hatte. Weil sie selbst – mit IHM – ihr Schicksal wählen wollte – und nicht bereit war, sich dem naheliegenden Hass anzuvertrauen.

Wenn wir diese verschiedenen Aspekte von Gottes Wirken in dieser Welt am Ende zusammendenken, wird eines klar: Das Sprechen von einzelnen „Eingriffen Gottes in die Geschichte der Menschen“ führt etwas in die Irre. Denn Gott kann also immer in die Geschichte der Menschen eingreifen, wo Raum für ihn ist oder wird – und er will das offensichtlich auch immer. Der christliche Begriff von der „Heilsgeschichte“ dieser Welt, die mit dem Weihnachtsfest kalendarisch beginnt, meint genau das: Mit Jesu Leben und Sterben ist die Tür immer offen, dass Heil geschieht, und zwar genau dort, wo Menschen bereit sind, diese Tür zu öffnen. Das ist mit dem Sprechen vom „Heiligen Geist“ gemeint, der schon in dieser Welt weht und handelt.

Das kann im Alltag sein, wo wir plötzlich spüren, dass wir ein böses Wort einfach nicht sagen wollen. Bei einem Erbstreit, wo einer der Erben merkt, dass die andere Seite ihn ein wenig benachteiligt, aber das – um des lieben Friedens willen – scheinbar gar nicht wahrnimmt. Oder bei einer Scheidung: Ein Mann sagt zu mir: „Bei der Scheidung hat meine Frau erst begonnen, die beiden Kinder gegen mich auszuspielen. Aber sie hat das dann auf einmal aufgehört – und dafür bin ich ihr bis heute dankbar! Und so können wir immer noch miteinander sprechen.“

Dort, wo plötzlich Raum wird für ein besseres Sprechen, ein besseres Denken, ein besseres Handeln, genau dort ist das Eingangstor für Gottes Hilfe und Handeln auch schon in dieser Welt. Am Ende gilt das natürlich auch für die große Geschichte der Völker miteinander. Menschen wie Michail Gorbatschow haben Raum geschaffen für Frieden und Freiheit. Es war übrigens auch genau dieser Michail Gorbatschow, der vor seinem Tod meinte, dass auch Wladimir Putin nicht nur schlechte Züge habe. Auf den ersten Blick klingt das heute erst einmal zynisch. Beim zweiten Hinschauen aber kann man fragen: Erinnert ein solcher Satz von Gorbatschow nicht auch an das Sprechen der Jüdin Etty Hillesum, die sich eben nicht der Gewalt und dem Hass öffnen wollte? Darum gehe es ihr, die „Liebe auf alle Menschen zu beziehen, deine positive Energie zu allen strömen zu lassen, nicht Böses mit Bösem zu vergelten, nicht Auge um Auge“, so deutet Bischof Wilmer das Leben von Etty Hillesum in seiner fiktiven Begegnung aus. Das ist doch bedenkenswert!

Straubinger Tagblatt vom 21. Dezember 2024