Leitartikel: Was Deutschland jetzt braucht

In einem unglaublich differenzierten und tiefgründigen Vortrag beschrieb die Chefin der Akademie für Politische Bildung Tutzing, Frau Professor Ursula Münch, bei einer Festveranstaltung unseres Verlages in Landshut vor über 600 Zuhörenden, wie es den Populisten dieser Welt gelingt, die Menschen zu verführen. Das Modell ist im Letzten ganz einfach: Die geben vor, die Sprache des Volkes zu sprechen. Im Inhalt, aber auch im Ton.

Sie machen die Dinge einfach, obwohl die Dinge kompliziert sind und kompliziert bleiben. So machen sie die Menschen glauben, dass sie Lösungen für die großen Probleme haben, obwohl genau sie die Lösungen am Ende nicht haben. Donald Trump ist das in den USA gelungen und es ist heute nicht klar, wohin die Reise dieses Landes in den nächsten Jahren geht.

Nach der Veranstaltung gab Ursula Münch im kleinen Kreis aber noch einen Hinweis für uns selbst, der nur auf den ersten Blick überrascht: Sie sagte nämlich, dass die anstehenden Bundestagswahlen am Ende gar nicht so interessant seien. Entscheidend für Deutschland seien die Bundestagswahlen in gut vier Jahren, also die übernächsten Wahlen. Was ist gemeint?

Heute verfügt das klassische demokratische Parteienspektrum noch über knapp 70 Prozent Zustimmung bei den Wählenden. Die AfD kommt auf knapp 20 Prozent, das Bündnis Sahra Wagenknecht auf rund sieben Prozent und die sogenannten Freien Wähler auf etwa drei Prozent. Das im Letzten immer noch marginal. Aber was, wenn die nächste Regierung wieder versagt? Was, wenn die Riesenprobleme, die tatsächlich da sind, wieder nicht im Ansatz gelöst werden? Was dann?

Der Politologe Heinrich Oberreuter aus Passau hat vor Jahren einmal gesagt, dass „Horst Seehofer die letzte Patrone im Colt der CSU“ sei. Seehofer war am Ende sehr erfolgreich und sicherte seiner Partei das politische Überleben bis heute. Die nächste Regierung – so muss man es überspitzt dann doch formulieren – ist fast schon die letzte Patrone im „Colt der Demokratie“.

Noch einmal also werden die Wählerinnen und Wähler in diesem Land in drei Monaten vor allem der CDU/CSU und der SPD vertrauen. Es steht schon zu erwarten, dass diese beiden Parteien eine regierungsfähige Mehrheit erhalten, und das ist auch wünschenswert. Denn bei diesen beiden Parteien vor allem liegt das historisch gewachsene Wissen und Vermögen, eine Regierung zu bilden und gut zu führen. Dort haben sich über Jahrzehnte Menschen entschieden, wertvolle Zeit in den Politikbetrieb zu stecken, um am Ende dem demokratischen Gemeinwesen zu dienen.

Was aber ist in der Sache zu tun, damit dieses Vertrauen in den nächsten Jahren nicht verloren geht und sich dann Abgründe auftun? Zum Ersten: Die seit Jahren in allen Lebensbereichen eingeforderte Entbürokratisierung muss endlich wirklich eingeleitet werden. Das ist viel schwerer, als viele sich das vorstellen. Aber es muss angegangen werden. Weniger Kontrolle, mehr Vertrauen und Zulassen einer Fehlerkultur, sodass Lähmungen aus Angst vor Fehlern beseitigt werden können. Das gilt für die Beamten in den Rathäusern und den Landratsämtern, in allen Behörden, aber auch in den Schulen, die von Anforderungen in jeder Form längst überfrachtet sind. Für Krankenhäuser und Pflegedienste, für alle, die mitarbeiten wollen, damit Deutschland wieder funktionsfähig wird.

Zum Zweiten, aber genauso entscheidend: Die ungleiche Einkommensverteilung in diesem Land kann so nicht weitergehen. In keinem Land Europas geht die Schere zwischen reich und arm so weit auseinander wie hierzulande. Es kann doch nicht sein, dass Arbeit bei mittleren Einkommen mit fast 50 Prozent besteuert wird, während dort, wo die Reichen ihr Geld mit dem Anlegen von Geld, mit Zins von Zinseszins, immer weiter vermehren, kaum Steuern bezahlt werden! Das ist unsozial und zerstört eine Gesellschaft von innen heraus.

Bemessungsgrenzen in den Systemen von Gesundheit, Krankheit und Pflege müssen so verändert werden, dass dort endlich mehr Geld ankommt. In Österreich, als Beispiel, zahlen alle in eine gemeinsame Krankenkasse ein, erst dann ist es möglich, sich auch privat zu versichern! Das Geld der Reichen und ganz Reichen muss viel stärker der gesellschaftlichen Solidarität dienen, von der die doch auch selber abhängen! Auch wenn Friedrich Merz für Blackrock gearbeitet hat und also genau für dieses Anlegen von Geld zuständig war, das muss von ihm verstanden und verändert werden! Ob er dafür die Kraft und das Verständnis hat?

Ein Drittes: Es braucht eine neue politische Kultur des Dialogs. Was Robert Habeck als Wirtschaftsminister geleistet hat, war Dialogverweigerung. Er ging bei Weitem nicht ausreichend ins Gespräch mit Verbänden und Betrieben; sondern entwickelte am Schreibtisch mit engen Beratern seine eigene Welt, die er dann in die Wirklichkeit umzusetzen versuchte. Die Wirklichkeit aber gehorcht keinen Dogmen!

Für die FDP gilt exakt dasselbe. Sie blieb regelrecht fundamentalistisch bei ihrer harten marktliberalen Haltung, die so am Ende primär unsozial und wirklichkeitsfremd war. Eine bessere politische Kultur muss viel besser mit Wirklichkeit umgehen. Regierende müssen miteinander eine neue Form des Dialogs entwickeln, die nicht immer nur auf die eigene Wählerschaft schaut. Zudem ist auch eine Dialogverweigerung, wie sie Kanzler Olaf Scholz in der Öffentlichkeit vorführte, ab einem bestimmten Punkt nicht mehr sinnvoll. Regierende dürfen und sollen nicht alles sagen, was sie denken und wissen, aber aus sich selbst eine schweigende Sphinx zu machen, das schadet der Demokratie.

Deutschland braucht wieder ein echtes Leitbild, das so stark ist, dass Menschen sich gerne wieder neu einsetzen für dieses Land. Als Lehrer, als Ärzte, als Krankenpfleger. Dass der Satz von John F. Kennedy: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst“ von Neuem in den Herzen und Köpfen der Menschen hierzulande aufscheint. Ein neuer Optimismus trotz aller Probleme, Hoffnung trotz aller Dunkelheit, das ist die entscheidende Chance der Demokratie gegen die Volksverführer vor allem der AfD.

Friedrich Merz zeigt heute sehr viele Farben. Auf der einen Seite hat er immer noch eine deutlich zu hohe persönliche Aggressivität im Umgang mit dem politischen Mitbewerber. Auf der anderen Seite entwickelt er spürbar mehr Fähigkeit zuzuhören; den anderen ausreden zu lassen, vom eigenen vorgefertigten Gedankenskript auch abzuweichen, um so ins Gespräch mit dem anderen zu kommen. Ein Anfang, immerhin!

Straubinger Tagblatt vom 16. November 2024