Heinz Rühmann war der Lieblingsschauspieler vieler Deutscher. Über Jahre, Jahrzehnte. Lustig, fröhlich, ein ganz Harmloser also, so wurde er erlebt, so stellte er sich dar. Das waren seine Rollen, das war er also selber, so dachten viele. Was die wenigsten bis heute wissen, ist die Tatsache, dass er, als er das Dritte Reich mit all seiner Gewalt heraufdräuen sah, ganz schnell seine jüdische Ehefrau verließ. Seine Karriere sollte ja weitergehen! Ein Lustiger also, ein Harmloser?
Der Mechanismus, der hier wirkt, heißt in der Wissenschaft der Psychologie „Projektion“. Heinz Rühmann gelang es, sein Bild in der Öffentlichkeit über die Rollen, die er spielte, gut zu manipulieren und seine dunkle Seite des gar nicht so harmlosen Mitläufers ein Leben lang zu verbergen.
Projektionen gibt es viele auf der Welt, gerade heute. Die Werbeindustrie lebt oft genug davon, dass sie Menschen glauben macht, dass bestimmte Produkte, die wirklich kein Mensch braucht, Heilwirkungen haben. Und in der Politik gibt es das natürlich bis heute genauso. Ein klassischer Fall ist der Verteidigungsminister Boris Pistorius. Er ist der beliebteste Politiker Deutschlands. Mit großem Abstand führt er alle Rankings an – und wurde sogar schon als Kanzlerkandidat gehandelt. Fragt man allerdings Bürgerinnen und Bürger, welche Rede sie noch im Ohr haben, die sie von Pistorius so überwältigend überzeugt hat, erntet man bleiernes Schweigen. Denn die gibt es auch nicht! Boris Pistorius gibt sich als tatkräftiger, handlungsstarker Politiker – und wurde so sehr schnell als willkommener Gegenentwurf zum Ex-Kanzler Olaf Scholz wahrgenommen, dessen Zögerlichkeit vielen immer stärker auf die Nerven ging. Politikberater freilich, die Boris Pistorius seit Jahren kennen und sein Wirken verfolgen, bescheinigen dem telegenen Verteidigungsminister allerdings eine bestenfalls durchschnittliche intellektuelle Begabung, die ihn kaum für die Wahrnehmung höchster politischer Ämter geeignet mache. Seine Beliebtheit in der Öffentlichkeit ist eine reine Projektion, die auf Unkenntnis beruht. Es gibt zudem auch nicht wenige Offiziere der Bundeswehr, die das eifrige, noch dazu freiwillige Abstellen einer Bundeswehrbrigade nach Litauen, die dort isoliert einen Militärposten aufbauen soll, nicht nur aus finanziellen Gründen für eine absolute Schnapsidee halten. In Zeiten, in denen militärische Stärke neu demonstriert werden soll, findet solches plakatives Handeln bei manchem Mitbürger dagegen eine voreilige und ungeprüfte Zustimmung.
Auch Angela Merkel ist es über die Jahrzehnte gelungen, ein projektives Bild von sich selber aufrechtzuerhalten. Ihr Wahlkampfslogan „Sie kennen mich!“ war der beste Ausdruck dieser Irreführung. Denn was gekannt wurde, war die Selbstdarstellung einer ehrgeizigen Politikerin, die als typisch deutsche Bürgerin erscheinen sollte und die so Durchschnittlichkeit als Norm ausgab und der es damit gelang, vieles zu verbergen: Bescheiden gab sie sich, nach allen Seiten ausgleichend, ein Urlaub in einem Vier-Sterne-Hotel eher nicht, drei Sterne reichen! Was verborgen blieb und auch verborgen bleiben sollte, war der unglaubliche Machttrieb der langjährigen Kanzlerin, dem alles untergeordnet wurde. Notwendige Reformen wurden über Jahre nicht eingeleitet und innerparteiliche Gegner mit solcher Brutalität ausgeschaltet, dass der langjährige Bundestagsabgeordnete Ernst Hinsken (CSU) zu mir sagte, darin sei sie noch stärker als Gerhard Schröder, der selber schon ein Meister in diesem Fach war.
Der Begriff der Projektion wird in der Psychologie dann noch weitergeführt in den Begriff der „projektiven Identifikation“. Das bedeutet, dass es Menschen gelingt, ihr eigenes Problem oder Thema als Problem oder Thema anderer Menschen so glaubhaft auszugeben, dass diese sich dieser Auflösung der Identitätsgrenzen nicht entziehen können.
Das ist tatsächlich den Politikern der Ukraine am Beginn des russischen Angriffskrieges gelungen. Damals saß der Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk, in fast jeder deutschen Talkshow und erklärte ungestört und weitgehend unhinterfragt, dass in der Ukraine jetzt das Schicksal von ganz Europa und natürlich auch das Deutschlands verhandelt würde. Seine und der Seinen fragwürdige These wurde in vielen Medien und Teilen der Politik so schnell gekauft, dass er sich dann sogar erlauben konnte, alle Politikerinnen und Politiker lauthals zu beschimpfen, die aus seiner Sicht nicht viel und schnell genug Waffen in sein Land liefern würden. Unvergesslich!
In seiner Autobiografie „Hoffe“ beschreibt Papst Franziskus sehr eindrücklich, dass ihm immer klar war, dass er nur für einen Frieden in der Ukraine arbeiten könne, wenn er sich nicht ausschließlich auf eine Seite stellen würde. Wird der neue amerikanische Papst, der vom Denken des Westens geprägt ist, das auch so sehen? Eine spannende, noch nicht zu beantwortende Frage!
Wer das Gespräch im Weißen Haus, das Donald Trump mit Präsident Wolodymyr Selenskyj vor Wochen führte, nochmals im Internet in aller Ausführlichkeit anschaut, der kann etwas sehr Interessantes bemerken. Präsident Trump, der das Gespräch sehr lange freundlich und diplomatisch führt, explodiert exakt an dem Punkt, als Selenskyj ihm aufdringlich sagt, dass er doch – obwohl ein Meer zwischen den USA und Russland liege – schon bald exakt dasselbe Problem bekomme wie die Ukraine. An diesem Punkt fährt ihm Trump in die Parade und verwehrt sich lautstark und aggressiv dagegen, dass Selenskyj ihm seine amerikanische (!) Situation mit einer solchen projektiven Identifikation ausdeute. Dann kippt das Gespräch ganz. Es ist erstaunlich, dass ein Präsident, der als wenigstens halbwahnsinnig erscheint, in diesem Augenblick einen solchen, letztlich klugen politischen Instinkt entwickelt und sich gegen seine Vereinnahmung wehrt.
Aber auch das lässt sich mit einem geisteswissenschaftlichen Denkansatz ein wenig erklären. Von Theodor Adornos und Max Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ bis hin zu Michel Foucaults brillantem Buch „Gesellschaft und Wahnsinn“ wurde immer wieder herausgearbeitet, dass eine nur auf das scheinbar Vernünftige begründete Welt erneut wieder blind für wesentliche Aspekte von Welt und Wirklichkeit wird. Trump muss man aus vielen Gründen sehr, sehr kritisch sehen, gerade was den Abbau von demokratischen Elementen in den USA angeht. Aber erstens muss man jetzt mit ihm leben die nächsten Jahre; und zweitens: Heilige amerikanische Präsidenten sind mir in den letzten Jahrzehnten auch nicht wirklich aufgefallen!
Straubinger Tagblatt vom 16. Mai 2025