Leitartikel – Nahost: Ich sagen heißt, Position zu beziehen

Was seine Hauptaufgabe wäre, fragte ich dereinst einen recht bekannten Psychotherapeuten, wenn seine Analysanden einmal in der Woche zu ihm in die Praxis kämen. Nach kurzem Nachdenken erwiderte er: „Zu lernen, ich zu sagen.“ Denn in den Stunden sei es oft so, dass Erwartungen von anderen aus den Patienten sprechen würden. Oder Rollen, die sie unbewusst von anderen angenommen und internalisiert hätten.„Wer spricht jetzt aus Ihnen?“ Das frage er in vielen Situationen – und das sei nicht immer leicht zu beantworten für seine Patienten. Deutschlands Rolle in der Welt! Deutschlands Rolle in Europa! Forsch wird von anderen gefordert, was wir zu leisten hätten. Im Bruderkrieg zwischen Russland und der Ukraine ist es der Politik hierzulande nicht gelungen, eine eigene Position zu beziehen.

Allein im Zögern des Kanzlers war erkennbar, wie unwohl er sich mit der einseitigen Identifikation mit der Ukraine fühlte. Die Stimmen der anderen aber waren laut und der scheinbar gültige Wertekatalog, den die Politiker der Ukraine für sich reklamierten, galt schnell als unhinterfragbar. Eine eigene abgewogene Position wenigstens im Sprechen zu beziehen, es war am Ende fast nicht möglich. Immer stand Schwarz gegen Weiß, Gut gegen Böse, Licht gegen Dunkel. Dieses Narrativ, das keine Diskussion und keinen Raum für Ambivalenz mehr zulässt, hat sich am Ende gerade heute weitgehend durchgesetzt, in der Politik und in den Medien. Und jetzt – im Nahen Osten?

Gefordert wird mit Blick auf die deutsche Geschichte, dass sich unser Land auch an diesem Krieg beteiligt. Von exakt denselben Politikern, die immer an vorderster Sprachfront kämpfen, wenn es um deutsche Kriegsbeteiligung geht, aber auch von vielen unserer jüdischen Freundinnen und Freunde. Sechs Millionen ermordete jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger sind das Argument, das mehr oder weniger deutlich ins Spiel gebracht wird. Wer Zweifel hat, steht schnell im Antisemitismusverdacht.

Aber zur Sprache gebracht werden muss doch schon auch, dass Benjamin Netanjahu einer der großen Verbrecher dieses neuen Jahrtausends ist. Der an seinem Sessel klebt, weil er weiß, dass er sonst wegen Bestechung im Gefängnis landen würde. Der deshalb, aber auch sonst nach der Macht hungert, und dem das Sterben von Tausenden und Abertausenden unschuldiger Menschen in Gaza gleichgültig ist. Der im Gaza-Streifen hat wüten lassen ohne Rücksicht auf Verluste. Dem die Hunderten gefallenen eigenen Soldatinnen und Soldaten nichts bedeuten, während deren Familien Trauer tragen. Der Krankenhäuser in Gaza hat bombardieren lassen, weil dort auch Kämpfer der Hamas versteckt seien. Dem allein der Krieg das politische Überleben sichert. Der als Hasardeur im Iran auf offener Straße töten lässt, obwohl er doch weiß, was das an Gewalt nach sich ziehen wird.

Ist das eine Regierung, mit der wir uns einfach mal so solidarisieren sollen? Ohne Rücksicht auf die Gefahren, die das hierzulande für uns selbst mit sich bringen wird? In einem Land, in dem Juden und Araber leben und beide willkommen sind. Das ist das Gesicht unserer Demokratie und unserer liberalen Lebensweise. Ist es nicht wenigstens jetzt sinnvoll, ganz genau zu hinterfragen, was wir wirklich leisten können, damit eine neue Eskalationsspirale der Gewalt, die auch uns in diesem Land am Ende schadet, nicht weiter anwächst?

Sicher, das Überleben des Staates Israel ist unser Interesse. So ist das formuliert und so gilt das auch! Das kann aber doch kein Blankoscheck sein, dass wir unser eigenes Interesse am Frieden in der Welt nicht mehr zur Sprache bringen. Dass wir uns erneut vereinnahmen lassen sollen für nur eine Seite. Dass wir alles Abwägen erneut fallen lassen – und schon wieder in eine einseitige Identifikation getrieben werden.

Als 1933 die Nazis die Macht in Deutschland ergriffen, ließ der Verleger des Straubinger Tagblatts, Kommerzienrat Dr. Georg Huber, genau deshalb nicht nur die Gottesdienste der Kirchen mit ihren Anfangszeiten in der Zeitung veröffentlichen, sondern ganz bewusst auch die Anfangszeiten des Gebets in der Synagoge. Das war ein gut verstehbarer eigener Standpunkt, der auch so wahrgenommen wurde. Ein Zeichen, zu dem er zeitlebens stand – mit all seinen für ihn schlimmen Folgen.

Ich sagen heißt auch heute in diesem Deutschland, von sich selbst her den Mut zu haben, Position zu beziehen. So unbequem das auch sein mag!

Straubinger Tagblatt vom 10. August 2023