Das letzte Mal, als einer die bürgerlichen Tugenden von Anstand und Sitte in der Bundespolitik so ganz ordinär verletzte, liegt fast 20 Jahre zurück. Die Bundestagswahl war für Gerd Schröder klar verloren, aber in der sogenannten Elefantenrunde im öffentlich-rechtlichen Fernsehen polterte er gegen Angela Merkel so richtig los: Sie glaube doch nicht im Ernst, dass seine SPD mit diesem (immerhin gegen die CDU/CSU) verlorenen Ergebnis ihre Kanzlerschaft akzeptiere, brüllte der Löwe in seinem letzten Schwanengesang.
Angela Merkel gab Jahre später zu, dass sie verunsichert gewesen sei in ihrem Anspruch auf die Kanzlerschaft, so sehr fühlte sie sich von Schröder eingeschüchtert. Immerhin der Einwand des damaligen FDP-Chefs Guido Westerwelle, der auf offener Fernsehbühne fragte, was Schröder getrunken habe, beruhigte sie etwas.
Natürlich, auf den ersten Blick imponiert das: dass da einer die gewohnten Regeln des Miteinanders verletzt. Noch einmal an den Stäben des Kanzleramts rüttelt wie in seinen jungen Jahren. Aber beim zweiten Blick wird man doch skeptisch – und erfolgreich war es obendrein auch nicht – und Schröder widmete sich erwartungsgemäß ab dem nächsten Tag dem Alkohol, den Frauen und seiner Tätigkeit als Lobbyist für seinen Männerfreund Wladimir Putin.
In der Bundestagsdebatte dieser Woche führte sich Oppositionsführer Friedrich Merz ganz ähnlich auf: „ein Klempner der Macht“ sei der Olaf Scholz, jede Vorstellung davon, wie es in diesem Land weitergehen solle, fehle ihm. Die Fähigkeit zum Kanzler stellte er mit den Worten „Sie können es nicht!“ in Abrede, um fortzufahren: „Die Schuhe, in denen Sie stehen als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, die sind ihnen mindestens zwei Nummern zu groß.“ In der Hitze der Bundestagsdebatte, da war ihm der schenkelklopfende Beifall der Seinen natürlich gewiss, aber ist ein solches Sprechen am Ende wirklich mehr als die Aufführung eines mittelmäßigen Kasperltheaters? Ist es nicht am Ende sogar stillos, den demokratisch gewählten Bundeskanzler, der kaum zwei Meter neben ihm auf der Regierungsbank sitzt, so zu beleidigen? Auf jeden Fall ist es in Zeiten des Fachkräftemangels eine Beleidigung aller Klempner dieses Landes, ihre Fähigkeit so abwertend zu beschreiben, wie Merz das vor aller Augen und Ohren getan hat. Die werden ihn wohl eher nicht mehr wählen. Und sonst?
Spricht man mit CDU-Abgeordneten aus Nordrhein-Westfalen und fragt, weshalb sie den weitaus besseren Kandidaten für die Kanzlerschaft, den begabten Ministerpräsidenten ihres Landes Hendrik Wüst, nicht deutlicher als Alternative zu Merz in den Vordergrund stellen, so antworten die sehr offen: Merz wolle die Kanzlerschaft in diesem Lande so unbedingt, dass Wüst, mit dem sie sich viel stärker verbunden fühlten, bei einem solchen Machtkampf, zu dem es dann in der Partei komme, schwere persönliche Verletzungen davon trüge. Das aber wolle man dem liebenswürdigen, sensiblen und freundlichen Kollegen Wüst ersparen, der vom Alter her auch noch ausreichend Zeit habe. „Der Andere will das so unbedingt“, sagen sie wörtlich und zucken ratlos die Schultern.
Einige wenige in der eigenen Partei gibt es allerdings doch, die Merz vorsichtig beizubringen versuchen, dass er der falsche Mann für das wichtigste Amt im Staat sei, so erzählt ein gut vernetzter Politikberater aus Berlin. Merz ginge dann am Abend auch im festen Willen nach Hause, seine Ambitionen doch aufzugeben. Allerdings bestärke ihn dann seine willensstarke Ehefrau erneut in seinen Ambitionen und das ganze Spiel beginne am nächsten Tag von neuem. Über Politiker, denen ehrgeizige Ehefrauen ihre Lebensziele definieren, wissen wir in diesem Land immerhin seit der Karriere von Karl-Theodor zu Guttenberg ganz gut Bescheid. Dem flüsterte der Erzählung nach seine Ehefrau vor dem Einschlafen noch einige Adelstitel zusätzlich ins Ohr, bis er tatsächlich glaubte, spätestens an Weihnachten der nächste Bundeskanzler zu werden – das Ende ist allgemein bekannt.
Und in der Sache selbst? War die Regierungserklärung von Olaf Scholz am Dienstag wirklich so schwach, wie auch manche Journalisten das in ihren medialen Beiträgen enttäuscht beschrieben?
Für Journalisten war diese Rede natürlich enttäuschend, denn sie teilte auf der Inhaltsebene fast nichts mit. Was soll man auch über einen schreiben, der sagt, er sei sich weiter seiner Verantwortung bewusst und man könne als Bürger der Regierung weiter vertrauen und müsse keine Angst vor der Zukunft haben. Mehr war da nicht drin.
So spricht an und für sich eher ein Psychotherapeut in der sogenannten „neutralen Aufmerksamkeit“ dem Patienten gegenüber, dem er gewogen ist, den er aber inhaltlich nicht bevormunden soll. Aber ein Politiker, von dem Antworten erwartet werden? Eines aber hat Scholz dadurch klugerweise erreicht: Er hat in seiner Koalition, wo die Dinge am Ende verhandelt und entschieden werden, keinerlei inhaltliche Vorfestlegungen getroffen, die ihm wenige Wochen später buchstäblich auf die Füße fallen können. Politisch war seine Rede also in diesem Aspekt sogar sehr klug. Dass eine erwartungsvolle Öffentlichkeit enttäuscht ist, ist die andere Seite der Medaille in einem Spiel, wo es für Scholz wenig zu gewinnen gibt.
Neuwahlen im Sommer? Ganz unwahrscheinlich! Alle drei regierenden Parteien wären vom Klammerbeutel gepudert, wenn sie nicht Wege finden würden, die ihre Chancen beim Wähler bis zur nächsten Bundestagswahl wieder verbessern. Kommt erschwerend hinzu, dass diese Regierung bei großen Fehlern einiges besser gemacht hat, als das in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Darauf weisen so manche Politikwissenschaftler recht deutlich hin.
Friedrich Merz als echte Alternative? Fast 20 Jahre nicht im politischen Beruf tätig, in der Ersatzwelt der Finanzen wohl eher ein Türöffner aus seinem Netzwerk heraus als ein glänzender Experte, so heißt es in Fachkreisen. Rückkehr in die Politik aus dem stark kompensatorischen Motiv heraus, vor Jahren erlittenes Unrecht in seiner Partei geradezubügeln.
Auf jede Frage, die in den Talkshows dieser Welt gestellt wird, hat der CDU-Vorsitzende immer sofort eine Antwort; und die trägt er dann bestimmt und dominant mit seinem bekannten Kopfnicken vor. So gibt er gerne sich selber recht und fordert Zustimmung förmlich ein. Nur manchmal blitzt der Jähzorn aus ihm heraus und er formuliert die bekannt schwierigen Sätze, die dann tagelang in den Medien aus gutem Grund debattiert werden. Mehr Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl bedeutet auch mehr solche Sätze. Das ist die Chance für Hendrik Wüst und die CDU – am Ende auch für unser Land.
Straubinger Tagblatt vom 1. Dezember 2023