Da konnte man sich nun wirklich sehr gut ein Bild davon machen, wer die Kandidatin für das Verfassungsgericht Frauke Brosius-Gersdorf ist, als sie in dieser Woche in einem Gespräch mit Markus Lanz in dessen Talkshow einen Einblick in ihr Denken und in ihr wissenschaftliches Arbeiten gab. Umstritten sind ja bekanntermaßen Positionen, die sie in der Corona-Pandemie vertreten hat und heute selbst eher kritisch sieht, aber vor allem auch ihre Position zu Fragen des Lebensschutzes von werdendem Leben.
Erst einmal muss man allerdings schon sagen, dass es mutig ist von einer jungen Frau, wie sie quasi ins Kreuzverhör eines oft genug unangenehmen Moderators geht, um Dinge in der Öffentlichkeit klarzustellen. Und es wurde auch erkennbar, dass diese Wissenschaftlerin hochintelligent und nicht ohne Grund unter ihren Kolleginnen und Kollegen fachlich angesehen ist.
Was allerdings vor allem erkennbar wurde, ist die Tatsache, dass ein solches primär juristisches Denken und Sprechen dem Lebensschutz von werdendem Leben überhaupt nicht gerecht wird! Der von der Wissenschaftlerin hypothetisch vorgebrachte Gedanke, dass die Menschenwürde eines heranreifenden Embryos mit jedem Tag im Mutterleib mehr werde und erst nach der Geburt seine volle Wirkung habe, ist wissenschaftlich vielleicht sogar begründbar; aber er ist dennoch abwegig. Er quantifiziert das Wunder werdenden Lebens in einer unzulässigen Weise, die eher an einen Bausparvertrag erinnert, der erst dann wirksam ist, wenn er bis zum Ende abbezahlt ist – und hat mit dem wirklichen Leben von Mutter und Kind nichts zu tun.
Wissenschaftlich würde man sagen, dass ein solcher Ansatz „kontraintuitiv“ ist. Und jedes wissenschaftliche Nachdenken, dem man vertrauen sollte, beginnt bei unserer Alltagsintuition und endet sinnvollerweise dort auch wieder. Überhaupt war das durchgehaltene Thema des Sprechens der Wissenschaftlerin von der „Güterabwägung“ zwischen der Freiheit der werdenden Mutter und dem werdenden Leben in ihrem Bauch befremdlich. Denn das ist doch von vornherein eine zwanghaft verkürzte Perspektive: In den allermeisten Fällen wird eine Schwangerschaft immer noch als großes Glück dankbar empfunden – und die Fälle, wo es zu einer Spannung zwischen den Interessen der Mutter und dem Lebensschutz des Embryos kommt, sind immer noch die Ausnahme – und es ist nicht umgekehrt!
Ein Perspektivenwechsel, der den Lebensschutz des Embryos von vornherein in ein Spannungsfeld zu den Freiheitsinteressen der Mutter stellt, ist eine Kopfgeburt, eine juristische Theorielastigkeit, die am Ende unserer Gesellschaft nicht guttut. Um das Wunder des Lebens zu verstehen, sollte man doch eher auf die Paare schauen, die oft über Jahre mit immer größerer Verzweiflung und ärztlicher Hilfe versuchen, ein Kind zu bekommen – aber es klappt halt nicht, was immer sehr schlimm für die Betroffenen ist! Die Perspektivverengung, die von der klugen Juristin Brosius-Gersdorf vorgebracht wird, zeigt sehr gut, wie sehr Wissenschaft, die juristische allemal, den Blick auf das wirkliche Leben verstellen kann!
Im Bundestag gibt es allerdings schon länger eine breite Initiative, das Recht auf Abtreibung neu zu regeln. Vorgebracht wird als Kritik, dass eine Abtreibung in den ersten drei Monaten zwar straffrei bleibe, aber formaljuristisch immer noch als Unrecht klassifiziert bleibe. Diese Differenz gelte es aufzuheben.
Diese Initiative ist nicht gut. Denn sie höhlt den Lebensschutz des ungeborenen Lebens aus. Im Widerspruch von Straffreiheit und gleichzeitiger Thematisierung, dass es hier um den Abbruch werdenden Lebens geht, liegt ein deutlicher Hinweis darauf, welch gravierender Eingriff ein Schwangerschaftsabbruch ist. Das offensichtliche Zulassen dieses Widerspruchs ist ein Schutzanker für werdendes Leben im Bewusstsein unserer Gesellschaft. Eine von Teilen des Bundestages angestrebte Liberalisierung des Rechts auf Abtreibung arbeitet dagegen mit an einem geringeren Bewusstsein dafür, dass eine Schwangerschaft niemals nur im Lebens- und Entscheidungsinteresse der werdenden Mutter alleine liegt und alleine sie anginge.
Häufig wird heute auch kritisiert, dass vor einem Schwangerschaftsabbruch ein Gespräch mit einer Fachstelle geführt werden muss. Das wird als Eingriff in die Autonomie der Frau dargestellt und abgelehnt. Im wirklichen Leben allerdings ist eine plötzliche Schwangerschaft oft genug eine so ungeheure neue Situation, dass es ratsam ist, mit fachkundiger Begleitung genau hinzuschauen, was denn Sache ist.
Oft genug sind es die Männer, die Frauen zu einer Abtreibung ermutigen – rücksichtslos gegen den Wunsch der Frau. Oder auch das gibt es: Ein Kind, das plötzlich kommt, ist eine Riesen-Schicksals-Chance für das eigene Leben, aber vor lauter Überforderung oder auch scheinbaren Problemen wird das von den Betroffenen nicht gesehen. Da ist ein Hinweis von einem erfahrenen Dritten, der die Situation von außen besser lesen kann, geradezu ein Geschenk!
Gesagt wurde, dass es ein Fehler des Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn gewesen sei, die Stimmung in seiner Fraktion nicht rechtzeitig erkannt zu haben. Aber man muss doch einen Schritt weiter gehen: Offensichtlich ist dem eiskalten Karrieristen Jens Spahn gar nicht bewusst, wie gravierend dieses Thema gerade für eine Partei ist, die in ihrem Parteinamen immer noch das christliche „C“ in sich trägt! Das Profil der CDU/CSU ist in den letzten Jahren merklich unscharf geworden. Jens Spahn, der seit Jahren erkennbar nur das eigene Machtinteresse verfolgt und in Diskussionen sein Gegenüber mit hochgradiger Aggressivität regelrecht niedermacht, ist nun wirklich kein geeigneter Anführer einer Fraktionsgemeinschaft, die eine Wurzel auch im Christsein hat.
Ein 90 Jahre alter Priester hat mir vor Jahren einmal erzählt, dass Frauen immer wieder in seinen Beichtstuhl kämen, um mit ihm darüber zu sprechen, dass sie vor Jahren ein Kind abgetrieben hätten. Auf seine Frage, ob sie das nicht schon gebeichtet hätten, hätten sie dann immer gleichlautend geantwortet: „Aber, Herr Pfarrer, es geht in mir einfach nicht weg!“ Natürlich – über die Jahre – geht das Leben dann doch weiter. Aber der vorgebrachte Seelenschmerz dieser Frauen, die immer wieder über das Geschehene sprechen müssen, ist ein Zeichen dafür, welch dramatisches Schicksal im Schutz des ungeborenen Lebens verhandelt wird. Dafür wieder sensibler zu werden, in einer Gesellschaft, die sich oft genug im Glücksstreben verliert, das wäre die Aufgabe!
Straubinger Tagblatt vom 18. Juli 2025