Jeden Morgen um kurz vor acht fuhr der alte Lateinlehrer mit der gesamten Würde des Studiendirektors eines humanistischen Gymnasiums in den Pausenhof, der für die Lehrkräfte zugleich als Parkplatz diente, in den Innenhof der jahrhundertealten Schule ein. Sorgfältig parkte er seinen violetten Volvo und lief gemessenen Schrittes auf das Gebäude zu, um sich dort unter dem andächtigen Schweigen der Schülerinnen und Schüler vor die Klasse zu setzen und sein Notenbuch zu öffnen. Livius, zehnte Klasse, Lektüreübungen.
Schweigend begann er, sein Notenbuch beim Buchstaben A aufzuschlagen, weiterzublättern, dankbar war man, wenn er bei D oder G angelangt war, das Herz jubelte, wenn es auf Z zuging; sobald er anfing zurückzublättern, begann die Seele, sich spätestens bei N oder M erneut zu verkrampfen. Wieder bei G oder D angelangt, wurde es fast aussichtslos.
Jeden Tag dasselbe Schauspiel, dazwischen Schulaufgaben, bei denen die Nebensätze mit der Konjugation „cum“ und einem Plusquamperfekt begannen, um dann in einem schnöden Hauptsatz mit einem primitiven Imperfekt Indikativ zu enden. Grammatikübungen, Deklinationen, Konjunktionen, komplizierte Schachtelsätze, die recht schwer zu entwirren waren, am Ende die Fähigkeit, zwischen dem Dativ und dem Akkusativ zu unterscheiden. Das war das Thema der Stunden.
Es geht auch um die Moral hinter den Kriegen
Aber warum gerade Livius? Warum dieses dritte Jahrhundert vor Christus? Was stand eigentlich in diesen Texten, von denen man am Rande mitbekam, dass sie von irgendwelchen Punischen Kriegen handelten? Vor lauter Grammatik blieben die Inhalte der Texte im letzten außen vor. Dankbar war man, wenn die Prüfungen einigermaßen glimpflich endeten.
Noch schlimmer wurde es an der Universität. Rückübersetzt mussten jetzt die Texte werden vom Deutschen ins Lateinische. Mit dicker roter Farbe wurde unterstrichen, wo man sich nicht des klassischen Lateins von Cicero bedient hatte, sondern auf Seneca oder einen anderen Autor ausgewichen war. Die zurückgegebenen Klausuren der Studentinnen und Studenten trieften Zeile für Zeile regelrecht von roter Farbe, so als hätte der junge Assistent Freude gehabt, auf den Prüfungsbögen nochmals die blutige Schlacht von Cannae nachzuspielen.
Aber warum das Ganze? Stand das Römische Reich kurz vor seiner Wiederauferstehung, und die Studentinnen und Studenten sollten darauf vorbereitet werden, dort als römische Beamte in den Staatsdienst einzutreten? Der Sinn dieses Studiums erschloss sich dem zweifelnden jungen Mann jetzt überhaupt nicht mehr. Oder handelte es sich doch um die Einübung in Praktiken von Sadismus und Masochismus, die einem bis dahin noch unbekannt gewesen waren? Draußen vor den verstaubten Fenstern der Altphilologie schien doch die Sonne über München, weshalb war es hier so düster?
Nach solchen Erfahrungen tut es gefühlte 2000 Jahre später gut, das Buch des Historikers Michael Sommer zu lesen. „Schwarze Tage. Roms Kriege gegen Karthago“ hat er es überschrieben, und es handelt exakt von der Frage, weshalb Rom mehr als 100 Jahre lang drei Kriege gegen Karthago führte, bis es diese Stadt in Nordafrika im zweiten Jahrhundert vor Christus am Ende dann dem Erdboden gleichmachte.
Noch einmal tauchen all die Namen auf, die man noch aus dem Schulunterricht erinnert: Hannibal, Hastrubal, die Scipionen Roms und natürlich der alte Cato, der all seine Redebeiträge im römischen Senat mit dem Satz beschloss, dass er es im übrigen für notwendig halte, die Stadt Karthago zu zerstören, was am Ende dann ja auch geschah.
Und all die Themen, die so interessant sind, werden hier tatsächlich diskutiert. Die Fragen der Macht, der Gewalt, des Tötens, der Kriege, der Moral hinter den Kriegen. Warum mussten so viele Menschen sterben, damit am Ende das Römische Reich die Kultur sein konnte, die bis heute die Keimzelle Europas geblieben ist?
Am Anfang stand die Rivalität von zwei gleichstarken Völkern: Rom mit seinen Verbündeten in Italien, Karthago als Wirtschaftsmacht auf der anderen Seite des Meers. Weshalb die Kriege? Die dann so endeten, dass der Autor als Resümee seiner dreihundert Seiten notiert: „Das Meer, das die wagemutigen Seefahrer aus Sidon und Tyros befahren hatten, um fern der Heimat Geschäfte an unbekannten Gestaden zu tätigen, war zum ,mare nostrum‘ der Römer geworden, zu einer durch die Legionen befriedeten, durch verbindliches Recht, die Verkehrssprachen Latein und Griechisch, einheitliche Münzen, Maße und Gewichte, eine ausgeklügelte Infrastruktur und den Mythos als gemeinsames Orientierungs- und Geschichtsdeutungssystem zusammengehaltenen Wohlstandssphäre. Wäre diese Rolle Karthago zugefallen, wenn die italische Wehrgemeinschaft 217 doch unter Hannibals Siegeszug zusammengebrochen wäre? Warum nicht? Europa wäre dann heute ein anderes.“
Das ist doch immer noch interessant, dass Kultur also einen geschlossen Raum braucht, mit einer gewissen Größe, um sich für eine gewisse Dauer nachhaltig entwickeln zu können. Nicht zu vergessen die anderen Motive, die bis heute an Bedeutung nichts verloren haben: Die Kriege beginnen mit der Auseinandersetzung um Sizilien, das eine extrem fruchtbare Kornkammer der Antike ist, also ein wirtschaftliches Motiv.
Und auch das ist modern: Außenpolitik als Fortsetzung der Innenpolitik. Die jungen Adligen Roms brannten darauf, sich im Krieg auszeichnen zu dürfen. Wer im Krieg erfolgreich war, der stieg auf der sozialen Nobilitätsleiter Roms nach oben. Mit Triumphzügen durch Rom wurden die gefeiert, die als erfolgreiche Feldherren nach Hause zurückkehrten. Die jungen Männer brannten förmlich darauf, „ihre virtus (Tugend) unter Beweis zu stellen“. So wurden dann auch Kriege geführt, die wenig Aussicht auf Erfolg hatten, nur damit die jungen Amtsinhaber, ob als Konsulen oder Feldherren, noch innerhalb ihrer festgesetzten Amtsperiode einen Erfolg nach Hause tragen könnten. Was für ein Wahnsinn aus heutiger Sicht!
Und der Krieg weitet sich so also immer weiter aus. Schauplätze werden Spanien, Korsika und Sardinien. Heute bewundern wir dort die Ausgrabungen aus der Antike, damals waren sie Schauplätze schrecklicher Kriege. Natürlich bis heute faszinierend: Hannibal marschiert mit seinen Truppen und Elefanten über die Alpen, weil der Seeweg von den Römern beherrscht ist.
Vom Norden her will er den Gegner überraschen. 140 Kilometer werden in zehn Tagen marschiert, auch die Elefanten überqueren den fast 2500 Meter hohen Col de Clapier. Verluste gibt es schon dort. Von Menschen und Tieren, aber die Logik des Krieges lässt das ganz in den Hintergrund treten.
Nur die Hälfte von Hannibals Soldaten überlebt den Feldzug über die Berge. Auf der anderen Seite aber sind die Verluste genauso gravierend. Die Schlacht am Trasimensichen See, wo sich heute die Urlauber aus der ganzen Welt so gerne tummeln: Nur dreitausend von über 30 000 römischen Soldaten überleben diese bis heute historische Schlacht, die Hannibal so glänzend gewinnt.
Karthago wollte nur Macht demonstrieren
Und der marschiert nicht nach Rom, weil es ihm gar nicht darum geht, Rom zu erobern. Karthago will sich nur im Spiel der konkurrierenden Mächte selber behaupten, deshalb trägt es den Krieg auf den italienischen Stiefel. Selber stark bleiben, aber nicht sich Rom zu unterwerfen, das war das Ziel Hannibals: „Er wollte die Bundesgenossen zum Abfall von Rom bewegen und ließ deshalb nach jeder Schlacht ihnen gegenüber demonstrativ Großzügigkeit walten. Ohne die italische Wehrgemeinschaft würde Rom auf den Status eines Stadtstaates reduziert werden, von dem niemals wieder Gefahr für Karthago ausgehen würde und der die nach dem letzten Krieg annektierten Gebiete würde zurückgeben müssen. Genau das war der Plan, den er verfolgte.“
Auch das ist extrem modern: Krieg als Strategie des politischen Überlebens. Nicht der sinnlose und totale Angriffskrieg, wie ihn ein Adolf Hitler nach allen Seiten führte; sondern Krieg als Strategie, um in einer Welt der politischen und wirtschaftlichen Konkurrenz das eigene Überleben zu sichern.
Die Schlacht bei Cannae: 90 000 Soldaten kämpfen auf der Seite Roms, Hannibal hat nicht einmal die Hälfte, am Ende für die Römer „ein Gemetzel und tausendfaches Sterben“. Fast alle müssen sterben, weil Hannibal gewinnt, was ihm nichts helfen wird. Aber die Logik der Gewalt geht weiter, die Spirale der Eskalation dreht sich Windung um Windung nach oben.
Im letzten kennt schon dieser Krieg kein Erbarmen, es geht um Vernichtung und Macht. Und Rom setzt sich durch. 147 vor Christus steht die römische Armee vor Karthago. Die Stadt wird eingeschlossen, die Menschen hungern dort genauso wie über 2000 Jahre später, als Hitler Leningrad einschließt und zigtausende Menschen dort sterben, bevor Hitler den Krieg dann doch verliert. Aber Karthago gelingt diese Befreiung nicht. Die Römer erobern die Stadt, sie töten und brandschatzen, immerhin fliehen noch 50 000 Menschen in die befestigte Burg der Stadt. Weil sie sich am Ende ergeben, dürfen sie überleben.
Der geschlagene Feldherr Hasdrubal aber lässt seine Soldaten und seine Familie im Stich, um selber zu überleben. Auch dieses Schicksal kennt man aus den Geschichtsbüchern des 20. Jahrhunderts. Die Ehefrau immerhin tötet die Kinder und stürzt sich dann selbst in die Flammen eines aufgerichteten Scheiterhaufens, nicht ohne den treulosen Gatten zu verfluchen: „Du Schuft, Verräter, verweichlichtester der Männer, dieses Feuer wird mich und meine Kinder begraben. Wirst du, das Oberhaupt des großen Karthago, einen römischen Triumphzug schmücken? O, welche Strafe wirst du nicht von dem erleiden, zu dessen Füßen du jetzt sitzest.“ Ein Frauenschicksal, das bis heute nichts an seiner Bedeutung verloren hat. Der Krieg als der große Zerstörer, dem nichts mehr heilig ist.
Am Ende geht es um die Dynamik der Macht: „Aktionsmacht, die auf nackter Gewalt gründet, kann sich zu instrumenteller Macht verfestigen, die wiederum in autoritative Macht übergehen kann.“ Die Kriege Roms sind für den Historiker Michael Sommer das Eintrittsticket des Römischen Reichs in die Welt der großen Mächte, die über die Jahrhunderte die Geschichte dominierten.
Die römische Kultur und Zivilisation gründet auch auf dem Blut der Menschen, die gerade in den Punischen Kriegen des zweiten und dritten Jahrhunderts ihr Leben verloren haben. Und unser Europa von heute ruht auch auf diesen Fundamenten, die von Macht, Herrschaft und Durchsetzung erzählen.
Und warum wird all das nicht im Lateinunterricht oder sogar im Studium später erzählt? Ganz klar – wer ein Lateinstudium einigermaßen heil überstanden hat und am Ende sogar einen Platz als Beamter im Schuldienst ergattert hat, der hat auch einen Krieg überlebt. Er hat eine unglaubliche Leistung vollbracht, so dass er jetzt endlich in Frieden leben darf. Genau besehen, ist auch das eine Geschichte der Macht.
Aber auf jeden Fall gilt: Ein Gespräch mit einem gebildeten Humanisten ist immer ein Gewinn. Und das Buch von Michael Sommer sei als hervorragendes Lehrstück über Gewalt und Macht allen herzlich empfohlen.
Straubinger Tagblatt vom 18. September 2021
Michael Sommer: „Schwarze Tage. Roms Kriege gegen Karthago“
(Beck, München 2021, 368 Seiten, mit 8 Abbildungen und 5 Karten, 26,95 Euro)