Guten Morgen, Herr Caruso!
Herr Professor, ich grüße Sie, was kann ich tun für Sie?
Also, ich habe wieder einmal etwas sehr Ungewöhnliches gelesen…
Immer raus damit!
Es gibt da jetzt so eine neue Studie im „Journal of Economic Behaviour and Organization“, die von einer österreichischen Psychologin mit Namen Linda Dezso durchgeführt wurde, wo herauskam, dass langes Warten dazu führt, dass Menschen sich nicht mehr an Regeln halten und sich – so sagt diese Studie – wenigstens „kleine moralische Verfehlungen“ gestatten.
Bitte etwas genauer…
Also zum Beispiel: Wer beim Arzt bereits eine Stunde warten musste, erfindet die Notlüge, dass er die Kinder von der Schule abholen müsse, obwohl es gar keine Kinder gibt! Und ganz viele ähnliche Fälle werden da beschrieben.
Also Herr Professor, das finde ich jetzt mehr als nachvollziehbar. Langes Warten ermüdet, macht mich träge und depressiv, da ist es doch naheliegend, da zu einer Notlüge zu greifen! Das ist doch selbstverständlich!
Aber, Herr Caruso, man soll doch nicht lügen!
Und was wäre dann ihre Lösung, weiter zu warten?
Naja, also bei Godot, da warten die bis heute – und auch bei Franz Kafka, dem seine Helden, die kommen niemals an und warten immer, Warten gehört zum Leben!
Also, das sehe ich nicht so! Sie wissen, wenn Sie das Haus verlassen und haben etwas vergessen und kehren zwei Minuten später zurück, schon finden Sie mich in Ihrer Küche, ob Sie irgendetwas nicht weggeräumt haben, was ich noch zu mir nehmen könnte!
Ja, eben, Sie wissen, wie sehr ich diesen Zug an Ihnen hasse, keinen Augenblick können Sie einen Triebverzicht leisten, das trennt uns wirklich! Ihre Ausflüge in meine Küche, wenn ich vergessen habe, die Türe zu schließen, bevor ich das Haus verlasse, die könnten unsere Beziehung fast schon zerstören!
Und Sie? Wollen Sie immer warten, ob Ihnen irgendetwas zufällig in den Schoß fällt? Dass es Ihnen vom Himmel her eine Pizzaschnitte in den Mund regnet aus dem heiteren Nichts – das ist doch absurd!
Natürlich nicht, aber das Leben gibt dann schon, wenn es an der Zeit ist, das, was an der Zeit ist!
Das haben Sie jetzt sehr schön gesagt, fast schon religiös. Ich kann nur sagen: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!
Aber bei mir ist das so: Wenn ich mir einfach immer auf der Stelle nehme, was ich auf der Stelle will, dann finde ich das irgendwie primitiv und reizlos. Irgendwie verliert dann doch alles an Wert und Würde, wenn man nicht warten kann. Wenn ich dagegen auf etwas gewartet habe, es mir erhofft habe – und es erfüllt sich endlich, das ist ein tiefes Sinnerlebnis!
Aber was machen Sie in der Zwischenzeit? Wird Ihnen da nicht langweilig, wenn Sie auf etwas warten, das dann – hoffentlich irgendwann – eintrifft? Und es könnte ja sogar passieren, dass es gar nicht eintrifft! Garnieniemals!!
Aber schon die Hoffnung, dass etwas eintrifft, was ich erhoffe, beflügelt mich. Am Ende ist es mir dann sogar egal, ob es eintrifft, weil die Hoffnung alleine mich schon so verzückt hat!
Für mich haben Sie einfach nicht alle Tassen im Schrank mit Ihrer Philosophie des Wartens! Sie wissen, dass ich Sie mag, aber was Sie hier denken, das bleibt mir fremd! Und überhaupt, wie schaut’s denn mit meinem Frühstück aus?
Alles klar, Herr Caruso, ich hol’s schon…
Straubinger Tagblatt vom 18. Oktober 2025