Wer bin ich wirklich? Durch alle Kulturen hindurch zieht sich diese Fragestellung. In der Welt von heute mag es schon sein, dass viele in der Schnelligkeit und Schnelllebigkeit einer ganz modernen Medienwelt diese Frage gar nicht mehr spüren. Aber sie bleibt da und es ist wichtig, dass sie immer wieder neu gestellt wird. Denn jede Zeit hat auch neue Fragen und braucht von daher neue Perspektiven.
Der Religionswissenschaftler Michael von Brück ist seit jeher ein Brückenbauer zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen oder auch zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. In seinem neuen Buch Wie wir Mensch werden – Anthropologie für die Zukunft stellt er vor allem heraus, wie produktiv die Erfahrungen im Hinduismus und im Buddhismus für unsere westliche Kultur sein können. Denn wenn der Mensch doch mehr ist als sein Alltagsbewusstsein, wenn ihn in der Tiefe seiner Seele immer noch die Dimension des ganz anderen erreichen kann, dann finden sich gerade im Hinduismus und im Buddhismus Möglichkeiten der Selbsterfahrung, die auch in unsere Kultur, die religiös vom christlichen Glauben geprägt ist, übersetzt werden können.
Chancen des Mensch-Seins in kalten Gesellschaften
Das Schweigen zum Beispiel müsse neu erlernt werden, so schreibt es der Autor, die Rückbesinnung auf die eigene Innenwelt, damit die Welt als „Selbstentfaltung des einen, das wir Geistmaterie oder Materiegeist oder auch ganz anders benennen könnten“, erfahren und erlebt wird. Sich selbst wieder spüren können, das Geschwätz der Welt wenigstens ab und zu an sich abprallen zu lassen, ein wichtiger Vorschlag des Autors.
Michael von Brück versucht in seinem neuen Buch nicht, Wege der Meditation aufzuzeigen, sondern er erzählt von den Möglichkeiten der Meditation und den Wirkungen, die sie zeitigen kann. Der Blick hinüber zum Buddhismus und zum Hinduismus ist dem evangelischen Christen von Brück deshalb so wichtig, weil er dort Chancen des Mensch-Seins sieht, die offensichtlich gerade in den kalten kapitalistischen Gesellschaften immer mehr in Vergessenheit geraten.
Die Gier (duhka) als Grundübel eines schlechten Miteinanders in der Welt, sodass dann schlechtes „Karma“ entsteht. Dagegengesetzt in den Religionen des Christentums, des Buddhismus und des Hinduismus eine Welt aus Empathie, Mitleid und wohlwollendem Engagement für den Mitmenschen.
Michael von Brück beschreibt, wie Menschen in außergewöhnlichen Momenten ganz plötzlich Seins- und Sinnerfahrungen machen, die ihr ganzes Dasein verändern. Eine mystische Ganzheitserfahrung kann in dieser Weise sein „das Spüren von Führung im Leben, von Schutzengeln, Stimmen, das unmittelbare Gefühl der Gegenwart einer höchsten Instanz, die sich in einem Gefühl von Heilung, Ganzheit und Freude ausdrückt. Es ist eine intuitive, direkte Erfahrung, die nicht nach Bestätigung von außen verlangt.“
Teil einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt
Das verbindet den christlichen Glauben mit den Religionen des Buddhismus und Hinduismus. Eine Erfahrung, die der Schweizer Schriftsteller Max Frisch in dem wunderbaren Satz ausgedrückt hat: „Ich kann nicht glauben, dass das, was ich sehe, schon der Lauf der Welt ist.“ Diese unmittelbare spirituelle Erfahrung fließt in allen Religionen hinein in die „festlichen Rituale“ des Lebens, wo mit anderen Glaubenden Auferstehung oder Gottes Gegenwart gefeiert wird.
Wichtig ist Michael von Brück, dass der Leser versteht, dass er Teil einer Welt ist, in der alles mit allem zusammenhängt. Er spricht von den „kulturübergreifenden Grundemotionen“: Angst, Trauer, Freude, Ekel, Ärger, zu denen er noch die Überraschung, die Verachtung und die Scham als wesentliche Pfeiler eines Lebens dazuzählt. Das seien die Grundmotivationen jedes Menschenlebens in jeder Kultur. Dass jedes Handeln Folgen nach sich zieht, dass jeder Mensch – ganz gleich in welcher Kultur er lebt – hinein verwoben ist in das große Ganze, das Christen Schöpfung nennen. Hinter allem aber stehe die Liebe: „Liebe ist die Grundstruktur der Wirklichkeit. Sie fordert und fördert alle Bewusstseinskräfte gleichzeitig: Erkennen, Fühlen, Erinnern, Wollen, Motivation zum Handeln. Liebe manifestiert sich für Menschen aber ganz besonders in einem emotionalen Ergriffensein, das überwältigt.“
Von daher stellt von Brück die Fragen nach der Verantwortung des Einzelnen, nach seinen Möglichkeiten, aber auch Grenzen. Die Fragen nach Leben und Tod, die Frage nicht nur, was es mit der Liebe auf sich hat, sondern auch, woher das Böse in dieser Welt kommt. Die Antworten des Autors sind dabei nie vereinfachend, aber doch so, dass der Leser gut verstehen kann, wie er selber mehr Orientierung in seinem Leben erreichen kann.
Das Böse durch das Verstehen überwinden
Etwa dann, wenn er mit dem Autor versteht, dass das Gute nicht das Gegenteil des Bösen ist, sondern dass beides in jedem Menschen da ist und dass es einer „Balance“ dieser „polaren Kräfte, die miteinander wechselwirken und die Dynamik des Lebens erzeugen“, braucht. „Hass, unmäßige Gewalt, Zerstörungswut sind fehlgeleitete Impulse und Einseitigkeiten, Blockaden im Fluss des Lebens. Es gibt nicht zwei Weltprinzipien, die einander bekämpfen würden (Gott und Satan), sondern einen Lebensstrom, der durch seine polaren Kräfte angetrieben wird.“
Und wie kann das Böse dann überwunden werden? Durch Verstehen: „Was das Böse (im Denken, Fühlen, Reden und Handeln) letztlich überwindet, ist Weisheit. Weisheit ist Prozess, sie ist nicht fixiert, sondern entsteht im Erkennen und Handeln.“
Überhaupt ist das ein Kernthema des Buches: Leben fließt, geht immer weiter, ist dynamisch – und macht deshalb Wandel möglich. So sehr ein Mensch sich selbst als einzigartige Identität erlebe und als Zeuge all diese Prozesse „beobachtend begleiten“ könne, so sehr sei er auf der anderen Seite „prozessualen Veränderungen“ unterworfen. „Die Welt ist nicht, sie geschieht. Bewusstsein ist nicht, es geschieht. Dieser Prozess ist das ständige Entstehen und Vergehen von Zuständen (Bewusstseinszuständen), und solche Zustände muss es mehrere Milliarden geben.“
Aber dennoch brauche der Mensch, so weiß es der Autor auch, in seinem Selbsterleben „Kontinuität und Konsistenz“, zum Beispiel durch die Möglichkeit, sich erinnern zu können. „Dadurch, dass Erinnertes gegenwärtig erlebt wird und mit neuen Erlebensmustern in Beziehung tritt, entsteht die Identität des Subjektes über die Zeit hinweg.“
Ein Mensch: einer, der lieben und verstehen kann
Was ist ein Mensch? Einer, der lieben kann, der Mitmensch sein kann, der verstehen kann. Auch in der Polarität von Konkurrenz und Kooperation steht jeder Mensch. „Allerdings muss das Konkurrenzprinzip dem der Kooperation untergeordnet sein, sonst zerstört der Konkurrent den anderen Konkurrenten, und wenn dieser ausgeschaltet ist, wird das ausbalancierte System zerstört. Konkurrenz ist lebensnotwendig, aber sie muss der Kooperation dienen“.
Das Mit-Leiden als gemeinsames Merkmal
Sowohl die christliche Religion als auch Hinduismus und Buddhismus tragen das als Wesensmerkmal in sich, sodass auch hier eine Brücke zwischen den Religionen erkennbar wird. Das „Mit-Leiden“ ist ein gemeinsames Merkmal der drei Religionen, über die Michael von Brück schreibt.
Mit Blick auf Ostern gibt von Brück die Interpretation des Theologen Abaelard aus dem 12. Jahrhundert wieder: „Der Anblick des unschuldigen Leidens erwecke die tiefsten Emotionen der Einheit mit anderen Wesen, dadurch werde der andere Mensch in das eigene Herz integriert und das sei der Antrieb zur geistigen Transformation.“ Der Abstand und die Grenze zum Mitmenschen werden in ähnlicher Weise durchbrochen in den fernöstlichen Religionen. Im Buddhismus geht es gerade um das „Handeln aus der Erkenntnis der Vernetzung mit anderen Lebewesen und der gesamten Wirklichkeit.“
Michael von Brück ist ein hochgebildeter Autor, ein Wissender. Wahrscheinlich gibt er deshalb der Künstlichen Intelligenz (KI) eine überraschend große Chance. Weil er „Geist“ als „Organisationsstufe von Informationsnetzen, die sich immer weiterentwickeln gemäß der inhärenten Dynamik“, definiert, zieht er aus dieser Definition den Schluss, dass sich damit „nicht nur der Gegensatz von Materie und Geist, sondern auch von natürlicher und künstlicher Intelligenz“ auflösen könne. Er wendet zwar neben anderen Argumenten vor allem ein, dass Menschen Gefühle haben, die nicht vorausgesagt werden können und gerade in der „Unvollkommenheit“ des Menschen das „Besondere, die Würde und die Bürde des Menschen“ lägen, aber dennoch ist die vom Autor beschworene Verwandtschaft von Mensch und Maschine abwegig und widerspricht doch ganz dem, wovon das kluge Buch von Michael von Brück sonst handelt. Denn Michael von Brück erzählt vom Menschen, was ihn antreibt, was er hofft, was er fühlt, vom Anfang und Ende seines Lebens – und all den Fragen, die damit verbunden sind. Und solche Fragen können Computer oder Maschinen am Ende eben niemals wirklich stellen!
Straubinger Tagblatt vom 12. April 2025