Ich war schon sehr interessiert, Sahra Wagenknecht persönlich kennenzulernen. Ein in Berlin bestens vernetzter Freund hatte den Termin organisiert. Zwei Stunden in einem Vier-Augen-Gespräch mit Sahra Wagenknecht, nur begleitet von ihm und Sahra Wagenknechts persönlichem Assistenten. Man war gespannt.
Ein Sonnentag in der Parlamentarischen Gesellschaft nah am Brandenburger Tor, durch die hohen Fenster des Hauses scheint das schöne Licht eines warmen Sommertages, das Gesprächszimmer vorbereitet, leises und freundliches Personal, das durch die Gänge zu schweben scheint, um die Gäste mit Getränken oder auch feinem Essen zu verwöhnen. Wer sich hier alles diskret trifft, man hat doch eine Ahnung.
Sahra Wagenknecht kommt nur wenige Minuten zu spät. Groß, schlank, eine Erscheinung. Vor wenigen Wochen hat sie ihre Partei gegründet, die Umfragewerte sind überraschend gut, kein Wunder, dass sie gute Laune hat. Tatsächlich sieht sie so aus, wie im Fernsehen. Das ist ungewöhnlich, die meisten Menschen sind in Wirklichkeit viel kleiner als am Abend im Wohnzimmer zu Hause. Und auch sonst, wenn sie spricht, man erkennt alles wieder, was man schon vorher wahrgenommen hat. Ihre sehr bestimmte Art zu sprechen, ihr selbstbewusstes Auftreten, der feine Zug um den Mund, wenn sie sorgfältig zu begründen sucht, weshalb sie so denkt, wie sie denkt, oder so handelt, wie sie handelt.
Die Themen liegen buchstäblich auf dem Tisch; und wenn Sahra Wagenknecht ihr Entsetzen beschreibt, dass man den Krieg in der Ukraine laufen lässt, ohne sich intensiver immer wieder neu um ein Ende zu bemühen, spürt man schon, dass es ihr damit ganz ernst ist. Die Toten auf beiden Seiten jeden Tag seien doch eine Katastrophe, an der man nicht vorbeigehen dürfe. Und auch das zweite Anliegen, das sich als roter Faden durch das Gespräch zieht, ist ihr erkennbar wirklich wichtig. Das immer stärkere Auseinanderdriften von Arm und Reich in der Gesellschaft hierzulande. Dass die einen, die schon Geld haben, damit immer reicher werden, während andere sich jeden Tag abstrampeln, etwa in den sozialen Berufen, aber am Ende kaum über die Runden kommen. Auch damit ist es Sahra Wagenknecht erkennbar ernst, aber sie fügt dann schon auch hinzu: „Aber wir wollen nicht die Betriebe stärker besteuern, die für die Wirtschaft so wichtig sind!“ Sie brauche Rat von Wirtschaftsexperten, die Wege und Mittel finden müssten, dass die, die das Geld egoistisch nur für sich nehmen, mehr abgeben, während die Wirtschaft und die Betriebe mit ihren Investitionen dadurch nicht geschädigt würden. Schon bald werde sie im Umfeld ihrer neuen Partei Expertenrunden berufen, die sich mit solchen Themen beschäftigen würden.
Sahra Wagenknecht ist klug, daran kann kein Zweifel sein. Und es ist eine Freude, sich auf so hohem intellektuellen Niveau mit einer Politikerin unterhalten zu können. Aber sie ist erkennbar auch eine Prinzessin, die um ihre Wirkung weiß. Irgendwie denkt man beim Gespräch mit ihr unwillkürlich an all die Tricks, die Prinzessinnen einsetzen, um ihre Väter oder Liebhaber zu bezirzen. Man müsse die Menschen doch auch bei ihrer Wut abholen, meint sie. Den Einwand, dass das die Wut der Menschen doch nur verstärke und das politische Klima in diesem Land verschlechtere, hört sie sich interessiert an. Befolgen wird sie ihn wohl kaum, denn der Zorn ist ihr auch ein Mittel, die Stimmen an der Wahlurne für sich zu gewinnen.
Das ist ein Aspekt, weshalb seriöse Politiker anderer Parteien einen großen Bogen um sie machen. Und ist es wirklich sinnvoll, laut zu rufen, dass Deutschland „die dümmste Regierung Europas“ habe? Schadet das denn nicht unserer Demokratie? Und stimmt das denn am Ende überhaupt? Bei allem Groll gegen die Ampel. Man müsse doch versuchen, sage ich zu ihr, auch in den anderen Parteien, das Gute und die integren Politiker anzunehmen, wende ich ein. Sahra Wagenknecht greift ein Mitglied der Regierung heraus. Sie sei gefragt worden, was sie an diesem Politiker gut finde. Es sei ihr einfach nichts eingefallen, sagt sie und bittet dafür um Verständnis.
In den Medien gibt es heute zwei Sichtweisen auf Sahra Wagenknecht. Die eine davon ist ganz simpel: Sahra Wagenknecht sei nur eine Populistin, Kommunistin, Stalinistin und Sprachrohr Putins. Ihre Partei wird in solchen Bewertungen grundsätzlich in einem Atemzug mit der AfD genannt und in den radikalen Verdacht gestellt, nur Böses für dieses Land im Schild zu führen. Die zweite Bewertung von Sahra Wagenknecht ist deutlich interessanter und wahrscheinlich auch intelligenter: Man wisse am Ende nicht, was man mit Sahra Wagenknecht bekomme. Bezeichnet wird sie und ihr Bündnis als „Black Box“, mit dem man eben noch keine Erfahrung habe. Im Vorfeld der Wahlen in Ostdeutschland wird der politische Blick auf Sahra Wagenknecht erkennbar realistischer, denn eine Partei mit rund 15 Prozent Zustimmung ist ein Faktor, der nicht ausgeblendet oder kleingeredet werden kann.
Und die fehlende Abgrenzung zur AfD? Es ist offenkundig Teil der Strategie Sahra Wagenknechts, sich bei weitem nicht laut genug von dieser hässlichen Fratze am rechten Rand des politischen Spektrums in Deutschland abzugrenzen, um das gemeinsame Wählerpotenzial für sie selbst nicht nachteilig einzuschränken. Das ist strategisch schon nachvollziehbar, aber es ist doch am Ende nicht gut für dieses Land, wenn der braune Rand nicht deutlich genug jeden Tag in aller Klarheit demaskiert wird. Auch von Sahra Wagenknecht. Das ist Politik, kann man einwenden, aber muss Politik wirklich so sein?
Fakt ist allerdings auch, dass die traditionellen Parteien, die Deutschland so gut durch die Nachkriegsjahrzehnte geführt haben, ein unglaubliches Vakuum geschaffen haben. Für was stehen sie wirklich? Die SPD, geht es nach Rolf Mützenich, dem liebenswürdigen und klugen Fraktionschef im Bundestag, oder nach Boris Pistorius, dem hemdsärmeligen Verteidigungsminister, der in einer neuen Regierung nach Olaf Scholz wohl die starke Figur der Partei sein wird? Da ist die Bandbreite zu groß, als dass das noch in eine Partei passt. Die Grünen, früher Friedens- und Umweltpartei. Heute schicken sie Toni Hofreiter in die Talk-Shows, dem es gar nicht genug Panzer auf der Welt geben kann. Und der auf eine Friedensdemonstration in Berlin zugeht, um die Demonstrierenden persönlich zu beschimpfen. Oder die Union mit dem Retro-Modell Friedrich Merz, der als Ego-Shooter die Zeit zurückdrehen will in eine Republik vor Angela Merkel.
Er wünsche dem Land mal ein halbes Jahr Friedrich Merz als Kanzler, damit man wisse, was man an Scholz habe, meinte vor gut einem Jahr noch scherzhaft der Kolumnist Hajo Schumacher in einer Talk-Show. Heute ist das kein Witz mehr, wenn Friedrich Merz nicht den Joe Biden macht, kann es wirklich passieren, dass er nächstes Jahr Kanzler wird. Die Union hat weit bessere Kandidaten als Merz. Aber wer mit deren Umfeld spricht, hört immer denselben Satz: „Der Merz will das so unbedingt, das wird blutig, wenn wir das infrage stellen. Wir müssen unseren Mann davor schützen.“ Das ist Politik, kann man einwenden, aber muss Politik wirklich so sein? Da wenden sich die Wähler doch angewidert ab!
Bei der Europawahl vor wenigen Wochen war ein neuer Trend zu bemerken. Kleine Parteien lassen aufhorchen. Wer kannte die Partei „Volt“ vorher? Vor allem viele junge Menschen haben die gewählt. Dieser Einspruch gegen das, was heute ist, ist mehr als verständlich. Aber ein Land mit immer mehr kleinen Parteien wird auch viel schwerer zu regieren. Es wird instabiler, auch wenn es gut ist, dass es neue Angebote auf dem politischen Markt gibt. Für Sahra Wagenknechts BSW gilt dieser Einwand fast schon nicht mehr. Mit den Prozentzahlen, die bei den Wahlen in Ostdeutschland zu erwarten sind, wird sie ein recht mächtiger Faktor im politischen Getriebe des Landes. Was sich aus der „Black Box“ dieser Partei bundesweit in den nächsten Jahren entwickelt, man kann es nicht wissen oder voraussagen. Wahrscheinlich weiß das Sahra Wagenknecht auch selbst noch nicht. Die Medien hierzulande aber werden das kritisch begleiten – und das ist auch gut so.
Straubinger Tagblatt vom 31. August 2024