Der Bischof ist entsetzt. Am äußersten Rand der Bischofstadt findet sich jetzt seit drei Jahren ein Freudenhaus. Aus kleinen Anfängen erwachsen, erfreut es sich einer immer größeren Beliebtheit in der Stadt. Entsetzlich. Der Bischof ruft also einen seiner besten Priester der Diözese zu sich. Er sagt: „Wissen Sie, werter Prälat, was sich da am äußersten Rand unserer Bischofstadt zuträgt?“
Der Prälat hat es nur vom Hören-Sagen mitbekommen, aber er antwortet pflichtbewusst: „Da gibt es ein Freudenhaus und wie man hört, erfreut es sich regen Zuspruchs.“ Und um dem Bischof noch stärker und inniger beizupflichten, setzt er hinzu: „Und das, wo unsere Kirchen immer leerer werden!“
Das erzürnt den Bischof noch stärker, aber er hat auch einen Plan. „Werter Prälat, ich habe dort auf eine Zeitungsanzeige, in der ein Hausmeister gesucht wird, geantwortet, und wir haben die Stelle bekommen.“ Er macht eine kurze Pause, blickt seinen erstaunten Prälaten an und fährt fort: „Sie werden diese Stelle ab nächster Woche besetzen – und Sie werden sie nutzen, um die Frauen dort zu bekehren! Sie haben drei Monate Zeit. Sie verrichten die Dienste eines Hausmeisters, aber in Wirklichkeit sprechen Sie mit den irregeleiteten Damen und führen sie auf den rechten Weg zurück.“
Erschrocken blickt der Prälat, der kaum weiß, wie ihm gerade geschieht, zu seinem Bischof hinüber, der so fortfährt: „Es braucht Bekehrung, denn was dort geschieht, ist wider alle Vernunft! Bringen sie die Damen auf den rechten Weg zurück“, er richtet seine Augen gegen die Decke des altehrwürdigen Bischofsitzes, faltet seine frommen Hände und sagt nochmals: Es ist wider alle Vernunft – und jetzt aber geh und beginne mit Deiner Aufgabe. In drei Monaten kehrst Du zurück und sagst mir, wie viele Damen Du auf den rechten Weg zurückgebracht hast“.
Drei Monate später kehrt der Prälat schon am frühen Morgen einer neuen Woche zu seinem Bischof zurück. Er ist ein wenig braungebrannt und hat ein ungewohntes Lächeln um seinen zarten Mund. Er nimmt auch gar nicht Platz auf dem Stuhl, den ihm der Bischof so freundlich anbietet. Er sagt nur einen Satz: „Bekehrung hat stattgefunden, Eure Eminenz!“
Dann verlässt er fast fluchtartig den Raum, die Stadt – und ward von da an niemals mehr gesehen.
Die Vernunft! Das Handeln wider die Vernunft – ein Alltagsgeschehen, aber am Ende auch eine philosophische Frage. Warum handeln Menschen wider alle Vernunft?
Der französische Philosoph Michel Foucault hat in seinem genialen Klassiker „Gesellschaft und Wahnsinn“ vor über 60 Jahren auf über 500 Seiten herausgearbeitet, wie sehr die Gesellschaft über die Jahrhunderte die Vernunft auf den Sockel ihrer Wertewelt gestellt hat, um damit nur zu zeigen, welche Angst sie vor den Abgründen des Mensch-Seins hat.
Foucault, der nicht nur ein brillanter Denker, sondern auch Arzt war, spricht von den „Gefängnissen moralischer Ordnung“ und davon, dass in der bürgerlichen Welt „die Vernunft sich selbst ihres guten Gewissens versichert.“
Als Gegenwelt der Vernunft macht Foucault die Abgründe des Todes, des Wahnsinns und die dunklen Geheimnisse des Lebens aus. „Der Festzug der Vernunft“, so schreibt er, sei eine einseitige Sache, die die Abgründe des Lebens mit ihrem lauten vernünftigen Widerspruch auszublenden suche, um in dieser Verdrängung sich selbst zu bestätigen und zu behaupten. „Die Vernunft braucht den Wahnsinn, um sie selbst zu sein“, so sein Urteil über die Jünger einer Kultur der Vernunft.
Das haben mittlerweile viele kluge Philosophen so beschrieben. Adorno und Horkheimer in ihrem Standardwerk von der „Dialektik der Aufklärung“: Auch sie sehen am Ende die Gefahr einer instrumentellen Vernunft, die über Leben verfügt, ohne dieses Leben in seiner ganzen Farbe noch erfahrbar machen zu können.
Die Traumwelt als die „via regia“ in die Seele
Dass das Bewusstsein des Menschen nur die Spitze des Eisbergs sei, hat Sigmund Freud schon vorhergesehen. Gegen die Vernunft bringt er die vielfarbige Triebwelt des Menschen zur Sprache und versteht, wie sehr diese für das Verhalten des Menschen verantwortlich ist. Und er findet Wege, den Menschen in der Tiefe seiner Innenwelt besser zu verstehen.
Die Traumwelt ist es, die er als „via regia“ (Königsweg) in die Seele des Menschen bezeichnet. In seinen Träumen könne der Mensch sich in seinen Wünschen, Ängsten und auch in seiner ganz eigenen Lebensgeschichte am besten begreifen, so Sigmund Freud. Das ist auch ein Widerspruch zu der oft allzu hölzernen Welt der Vernunft, in der man nicht recht leben mag.
Vernunft alleine kann das Leben nicht bewältigen
Das entwertet den großartigen philosophischen Entwurf von Immanuel Kant nicht, der den Menschen zur heiligen Pflicht des Gut-Seins aufruft. Aber es zeigt doch, dass es damit alleine nicht getan ist. Gerade auch Sigmund Freud weiß, dass sich das „Unbewusste“, das den Menschen entscheidend ausmacht und sein Handeln bestimmt, auch im Wahnsinn zeigt.
Während die Vernunft all diese Ebenen des Lebens ausblendet, sind die integralen philosophischen und psychoanalytischen Verstehensentwürfe, die es heute gibt, doch viel besser geeignet, dem Leben gerecht zu werden. Sie stellen den Menschen in die Mitte all seiner Möglichkeiten und zeigen, dass es eine Dynamik des Lebens gibt, die mit der Vernunft alleine nicht zu bewältigen ist.
Weshalb ist es gerade im Land der Dichter und Denker, also hier in Deutschland, zu den Exzessen des Dritten Reichs gekommen? Die viel gestellte Frage. Im Land von Goethe und Schiller, von Herder und Hölderlin?
Vielleicht gehört das doch zusammen, dass das allzu helle Licht des Geistes den Schatten vergisst, den es zwangsläufig wirft. In den 1970er Jahren noch wurde ein bekannter Psychiater und Philosoph bei einem Kongress ausgepfiffen, weil er meinte, dass in jedem Menschen Kain und Abel steckten und auf dieser endlichen Welt sich nicht Kain und Abel als zwei Personen begegneten. Als er zudem noch behauptete, dass in jedem Menschen auch ein Mordimpuls angelegt sei, war es mit der feierlichen Kongressatmosphäre schnell vorbei!
Wo das Gute idealisiert wird, wird es zur eingeforderten Norm, am Ende zur trügerischen Normalität. Verdrängt und verborgen bleibt alles, was dem widerspricht. Am Ende gewinnt die Kehrseite des Guten und Vernünftigen umso größere Macht.
„Es ging los, ich weiß nicht wie, der Mann ist hin“
In Joseph Roths Roman „Die Kapuzinergruft“ will ein Leutnant die Gefangenen nur erschrecken. Er lässt sie in einer Reihe antreten und zielt mit dem Gewehr auf sie. Danach berichtet er: „Ich ließ sie in einer Reihe antreten. Ich wollte sie nur erschrecken. Ich schoss in die Luft. Beim letzten Schuss war’s, als drückte jemand meinen Arm nieder. Es geschah schnell, es ging los, ich weiß nicht, wie, der Mann ist hin. Die Leute verstehen mich nicht mehr.“ Auch der Leutnant versteht sich selbst nicht mehr und bleibt verstört zurück. Er ist ganz überrascht, was also auch in ihm war und auf einmal zutage trat.
Das Böse wird eher von den Grautönen des Lebens gemildert. Das Moralische, das gerade heute so oft beschworen wird – im Namen des Guten gegen das Böse – wird sich auf allen Ebenen des Lebens kaum durchsetzen.
Das Weiße gegen das Schwarze, das Gute gegen das Böse, es bleibt die Welt der Filmindustrie, die mit Arnold Schwarzenegger einen Helden kreiert, der im zweiten Teil seines Lebens als Gouverneur von Kalifornien – ohne mit der Wimper zu zucken – die Todesstrafe gnadenlos exekutieren lässt, um danach beruhigt früh zu Bett zu gehen und den Schlaf des „Gerechten“ zu schlafen.
Und unser Bischof? Wer war das, der den Prälaten so hoffnungsvoll auf den Weg des Bekehrens schickte, um am Ende einen bekehrten Prälaten zurückzubekommen?
Der Bischof von München war es nicht. Denn der ist Kardinal und lebensfroh und viel zu barock. Der käme gar nicht auf diese Idee!
Und der aus Regensburg? Er war’s auch nicht. Aber der schon eher. Ja, auf den würde es passen. Und ist es nicht herrlich, sich das vorzustellen?
Straubinger Tagblatt vom 8. Juni 2024