Meine erste Begegnung mit Gerhard Schröder liegt mehr als 25 Jahre zurück. Beim Zeitungskongress in Hannover würde er zu uns sprechen. Wir waren gewarnt. Er sei so gewinnend, dass man nach wenigen Minuten ganz von ihm eingenommen sei. Ich hatte mich also innerlich gewappnet. Wollte mich nicht von seinem damals sprichwörtlichen Charme verführen lassen.
Schröder hatte gerade schwere Tage hinter sich. Im Dreikampf zwischen Oskar Lafontaine, Rudolf Scharping und ihm selbst hatte er eine schwere Niederlage hingenommen und lag jetzt deutlich hinten. Scharping, damals Parteichef, hatte ihm Kompetenzen weggenommen – und das auch noch in aller Öffentlichkeit.
Doch Schröder schien sich, als er endlich den Saal mit den wartenden Verlegern und Journalisten betrat, daran überhaupt nicht zu stören. Er war großartig aufgelegt, stellte sich hinters Rednerpult – und nach gut zehn Minuten formte sich nicht nur in meiner Seele der Satz: „Gerd, was kann ich für dich tun?“ Ein Verführer, der das Geschäft der Verführung blendend verstand.
Jeder weiß, wie der Dreikampf endete. Scharpings politische Zukunftshoffnungen – er war damals in Schröders Kabinett am Ende Verteidigungsminister – ertranken buchstäblich beim Baden mit einer Gräfin, während seine Soldaten im Ausland kämpften. Das wurde nicht akzeptiert, dass Scharpings Männer in Afghanistan um ihr Leben zitterten, während er sich von einem Hochglanzmagazin beim Turteln auf Mallorca mit einer Gräfin in zärtlichsten Posen ablichten ließ.
Lafontaine hielt länger durch. Auch er war gewinnend. Ein Genießer, ein Lebenskünstler, schlampig, aber begabt. Dem Machtwillen Schröders war auch er am Ende nicht gewachsen. Ein Superminister bleibt schwächer als ein Kanzler.
Als ihm das nach recht kurzer Zeit in Schröders Regierung klar wurde, beendete er schlagartig seine Geschichte in und mit der SPD. Ein schlechter Verlierer. Privat – so erzählen es Wegbegleiter – bei Weitem netter als Schröder, der ihn besiegte.
Blieb Schröder. Der Steher, der Überlebenskünstler, damals die letzte und einzige Hoffnung der SPD, wo doch die anderen alle am Wegesrand zurückgeblieben waren.
Aber wer war Schröder denn wirklich? Damals, als er so viele bezauberte – heute, wo er so sehr in der Kritik steht?
Ein Mittagessen mit Helmut Kohl im Frühjahr 2007. Wir drehen in München eine Fernsehsendung für das Bayerische Fernsehen, die ich moderieren darf. 90 Minuten. Kohl hat nur zugestimmt unter der Bedingung, dass es bei der Hälfte der Aufzeichnung ein bayerisches Buffet gibt. Dann würde er auch die zweiten 45 Minuten weitermachen. Vor allem der Wurstsalat und der Obazde haben es ihm angetan.
Die weiße Serviette um den Hals gebunden, erzählt Kohl aus seinem politischen Leben. Von seiner Sympathie für Willy Brandt, den er kurz vor dessen Tod noch besucht habe. Brandt habe sich schwer krank noch einmal in einen Anzug geworfen. Als er ihn gemahnt habe, dass das wirklich nicht nötig gewesen sei, habe Brandt geantwortet: „Ich weiß doch, was sich gehört, wenn mein Kanzler mich besucht.“
Auch für Lafontaine habe er immer Sympathie gehabt, und Kohl fügt dann noch hinzu: „Wenn Sie mit Lafontaine abgemacht haben, dass beim politischen Kampf die Sekretärinnen unbehelligt blieben, dann hat das gegolten. Wenn Sie das mit Schröder abgemacht haben, dann hat er sich ein paar Tage später an keine Abmachung mehr gehalten, sondern das Gegenteil gemacht.“
Schröder gewann seine erste Bundestagswahl, weil es Zeit war. Der Mann, der aus kleinsten Verhältnissen kam, hatte als junger Mann am Tor des Kanzleramts gerüttelt und geschrien, dass er „hier rein“ wolle. Kohls Zeit war zu Ende, das vereinte Deutschland hatte genug Kohl gehabt. Mit Joschka Fischer, dem anderen Machthungrigen der 90er-Jahre, bildete Schröder die neue Regierung, in der es vor allem um ihn selbst ging. Das schöne neue Leben, ein wenig Thomas Gottschalk, „Bild, Bams und Glotze“, wie er selbst es formulierte, eine neue Liebe, er war dort angekommen, wo er immer hingewollt hatte.
Als Schröder merkte, dass er eigentlich arbeiten müsste, war die Hälfte der Legislatur schon vorbei – und der nächste Wahlkampf stand vor der Tür. Schröders Werte waren schlecht. Aber Schröders politischer Instinkt hatte ihn dorthin gebracht, wo er jetzt war, und er sollte ihn auch jetzt nicht im Stich lassen. In Deutschland kam die große Flut – und während der Rivale Edmund Stoiber noch seine Gummistiefel im Schrank suchte – mehrere Tage lang –, war Schröder als Macher und Retter längst unterwegs. Auf allen Kanälen. Schulterklopfend, mutmachend, gewinnend wie in alten Tagen. Und dann noch der Krieg am Horizont. Der kleine George W. Bush auf dem Weg in den Irak. Schröder spürt das – und er spürt auch die Angst der Menschen in Deutschland vor diesem Krieg.
Im Wahlkampf wettert er gegen den kommenden Krieg und die USA. Die Union orientierungslos, Schröder laut und deutlich. Der Kunst- und Kulturkritiker Joachim Kaiser schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“ ganz richtig: „Noch selten wurde eine so richtige Politik so falsch gemacht.“
Schröder verkauft seinen Pazifismus auf den Marktplätzen des Wahlkampfs, verspricht Amerika hinter den Kulissen mehr Unterstützung für Afghanistan, verprellt den transatlantischen Partner dennoch – und gewinnt am Ende die Wahl, die schon verloren schien. Unvergesslich die Bilder, wie Schröder und die Seinen nach durchzechter Nacht zum Kanzleramt marschieren. Erschöpft, planlos, überrascht vom eigenen Sieg. Die Kassen leer, die Probleme des Landes überlebensgroß.
Aber eines gilt: Sein Instinkt hat ihn nochmals dorthin geführt, wo er immer hinwollte, ins Kanzleramt, auf die große Bühne, ihn, der aus ganz kleinen Verhältnissen nach oben wollte und das mit einem Ehrgeiz betrieb, den man in einer gewissen Weise bewundern kann. Das Ende bekannt: Hartz IV. Notwendig, aber einseitig. Schröder führt die Sozialdemokratie nochmals an die Macht, aber die neuen Belastungen treffen vor allem die Verlierer der Gesellschaft. Lob von der Wirtschaft, immerhin kritisieren die Wirtschaftswissenschaftler, dass diese Reformen zwar richtig, aber zu wenig kreativ sind. Die Reichen bleiben reich und in ihrer Welt unangetastet. Das kann nicht gutgehen in einer Partei, die in einem Arbeitermilieu verhaftet war und ist. Also Neuwahlen, die Schröder herbeiführt. Mit letzter Kraft führt er seine Partei nochmals in die Regierung, diesmal als Juniorpartner der CDU/CSU. Fast hätte es wieder gereicht, aber das war dann doch nicht mehr möglich, nicht mal für Schröder. In der Berliner Runde brüllt er ein letztes Mal und verdutzt alle damit.
Wer ist Gerd Schröder? Ein Einzelkämpfer. Ein Mann, der, wenn es um seine Interessen geht, wenig Rücksichten nimmt. Oder auch gar keine. Aber auch ein Politiker mit einem unglaublichen Instinkt. Ein Mann, der politische Situationen lesen kann wie ein guter Fußballtrainer ein Fußballspiel.
Alles, was Schröder heute zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine sagt, ist richtig: Dieser Krieg muss schnellstmöglich beendet werden. Es geht am Ende nur mit einem Friedensschluss auch auf Kosten territorialer Ansprüche der Ukraine. Die Krim für die Ukraine zurückerobern zu wollen, ist ein Wahnsinn ganz eigener Art. Und: Russland ist der Ukraine militärisch grenzenlos überlegen. Alle politischen Botschaften, die Schröder sendet, sind zutreffend. Er bleibt ein Profi in seinem Geschäft. Stellen wir uns vor: Gerhard Schröder würde alle Einnahmen, die er aus seiner Verbindung zu Wladimir Putin erhält, für Flüchtlinge spenden. Und die letzten fünf Jahre dazu.
Würden wir ihn auch dann noch so abwertend behandeln, wie wir das heute alle miteinander tun? Würden wir dann auch noch das, was er politisch zu sagen hat, in Bausch und Bogen verdammen?
Gegen Gerhard Schröder spricht heute nicht die politische Botschaft, die er sendet. Gegen ihn spricht, dass er Geld dafür nimmt, viel Geld, während die Menschen im Krieg sterben. Was für eine vergebene Chance!
Straubinger Tagblatt vom 20. August 2022