Herr Caruso, guten Morgen!
Ah, Sie schon wieder…
Ja, aber heute habe ich eine Kritik an Ihnen…
Das kann doch nicht sein…
Doch, es geht um Folgendes: Immer wenn wir zusammen spazieren gehen und ich esse etwas – so wie zum Beispiel gestern einen verspäteten Krapfen für ein ausgefallenes Frühstück – während unseres gemeinsamen Spazierganges also, dann wirken Sie so und schauen Sie so – während dieses ganzen gemeinsamen Spaziergangs – als wäre das Ihr Krapfen! Und das jedes Mal, und das die ganze Zeit und das nervt!
Aber es könnte doch auch mein Krapfen sein? Weshalb haben Sie den? Mit welchem Recht essen Sie während unseres gemeinsamen Spaziergangs meinen Krapfen, das geht mir durch den Kopf…
Aber es ist meiner. Ganz allein meiner! Und ich sage das jetzt mal ganz grundsätzlich. Wir Menschen haben einen sehr feinen Blick dafür, was dem einen gehört und dem anderen eben nicht. Bei uns geht es fair und gerecht zu! Eigentum ist Eigentum, und mein Krapfen ist mein Krapfen und bleibt mein Krapfen!
Bei euch Menschen geht es fair und gerecht zu? Das sehe ich nicht so!
Wie meinen Sie das denn jetzt schon wieder?
Also zum Beispiel: In diesem Jahr hat sich ein Vorstandsvorsitzender eines großen Konzerns damit gebrüstet, dass er auf einen Bonus von 500 000 Euro verzichtet – und nun also nur noch 12 Millionen Jahresgehalt hat. Der hält sich jetzt für einen wohltätigen Samariter!
Aber das ist er doch dann auch. Wenn er auf 500 000 Euro verzichtet, das ist doch unglaublich viel Geld. Zeigen Sie mir eine Krankenschwester, einen Lehrer, einen Sozialarbeiter, die auf ähnlich viel Geld in einem Jahr verzichten! Zeigen Sie mir doch die! Niemand von denen macht das. Er aber unterzieht sich einem unglaublichen Verzicht!
Das ist doch lächerlich! Eine Krankenschwester verdient ja gar nicht so viel. Ein Lehrer auch nicht – und ein Sozialarbeiter erst recht nicht!
Eben, die leisten doch auch viel weniger! Bei uns Menschen geht es streng nach Leistung. Ein Vorstandsvorsitzender eines großen Konzerns. Der kann doch nachts kaum mehr schlafen vor lauter Verantwortung. Der bibbert regelrecht!
Ach, Schwachsinn! Die haben herrliche Zeiten. Ihre Leute arbeiten und sie fahren Ski in St. Moritz!
Woher wollen Sie denn das wissen?
Weil mir das meine Hundefreunde aus der Schweiz schreiben, die da mit ihren Herrchen spazieren gehen.
Hmmm, tatsächlich?
Ja, tatsächlich! Also schauen Sie, wenn der 12 Millionen im Jahr bekommt, ein normaler Mensch in der Gesellschaft aber rund 50 000 Euro im Jahr, dann wäre ja dem seine Leistung 250-mal so viel wert wie die vom Normalen. Finden Sie das noch fair und gerecht?
Ich finde eher, dass Sie ein Kommunist sind! Wenn Sie so weiterreden, werde ich Sie beim Verfassungsschutz melden!
Papperlapapp. Vor drei Wochen wollten Sie mit mir noch über die Möglichkeit wahrer Erkenntnis sprechen, und jetzt, wo’s ernst wird? Da ziehen Sie also den Schwanz ein, um’s mal ganz deutlich zu sagen.
Sie stellen gerade meine ganze Welt in Frage!
Ich erklär’s Ihnen jetzt mal ganz in Ruhe: Alle Menschen sind irgendwie auch gleich. Und haben am Ende auch irgendwie gleiche Bedürfnisse. Wenn der 250-mal mehr bekommt als die meisten anderen, dann hätte der ja auch ganz andere Bedürfnisse…
Ja, hat er auch. Er hat eine Yacht mit 12 Matrosen, 120 Pferde und neben seiner Frau auch noch zwei Geliebte. Das muss doch alles bezahlt werden!
Jetzt stellen Sie gerade meine Welt infrage… also kehren wir lieber zurück zur Ausgangsfrage: Wenn Sie beim Spazierengehen einen Krapfen haben – und ich auf derselben Strecke keinen, dann dürfen Sie sich doch nicht wundern, weshalb ich die ganze Zeit Ihren Krapfen betrachte, oder? Können Sie das verstehen mit ihrem Menschenhirn?
Herr Caruso, ich möchte an dieser Stelle das Gespräch sicherheitshalber beenden, ich freue mich aber schon auf unser nächstes Treffen.
Straubinger Tagblatt vom 7. Dezember 2024