Was heute gar nicht mehr so erinnert wird, ist die Tatsache, dass es die CDU war, die mit ihrem Kanzler Konrad Adenauer nach dem Zweiten Weltkrieg verstand, dass nur eine Westbindung an die USA Zukunft für die Bundesrepublik Deutschland verbürgen würde. Deshalb stellte man die deutsche Frage mitsamt der Wiedervereinigung dahinter zurück. Es war damals die SPD, die sich „durch ihr Beharren auf dem Primat der deutschen Einheit ein nationales Profil erwarb“. So erzählt es der Historiker Heinrich August Winkler in seinem gerade erschienenen Buch „Wie wir wurden, was wir sind“. Dabei setzt er interessanterweise keine der beiden Positionen gegeneinander ins Recht, denn unverzichtbar war Adenauers Kurs auf den Westen hin in jedem Fall, aber der Historiker erkennt auch an, dass es eine historische Leistung der SPD war, die deutsche Frage damals weiter lautstark zu thematisieren.
Wir wissen heute alle, wie die Geschichte ausging: Nach der Verhärtung des Konfliktes zwischen der westlichen Welt und dem Warschauer Pakt war es die SPD, die dann in den 70er-Jahren mit ihrer Ostpolitik auf die DDR zuging, um Verbesserungen für die Menschen in der DDR und ihre Beziehungen in die Bundesrepublik zu erreichen. Nochmals 20 Jahre später waren die politischen Positionen dann vertauscht. Helmut Kohl wollte die Wiedervereinigung und erkämpfte sie, als die Sterne dafür glücklich standen. Maßgebliche Kräfte in der SPD, an der Spitze mit Oskar Lafontaine, glaubten, dass dies für die Weltgeschichte keine so gute Idee wäre, und hatten dafür durchaus auch nicht ganz von der Hand zu weisende Argumente.
Am Ende setzte sich letztlich eine Position durch, die als Erster und damals Einziger 1966 Franz Josef Strauß, zu dieser Zeit CSU-Vorsitzender, formuliert hatte: Er glaube nicht mehr an die „Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates, auch nicht innerhalb der Grenzen der vier Besatzungszonen“. Vielmehr gehe es heute darum, Verhältnisse zu schaffen, „die es erlauben, ein vereinigtes deutsches Potenzial so zu absorbieren, dass sein unvermeidliches Übergewicht das Zusammenleben der Völker nicht belasten kann. Das wird aber letzten Endes nur mit dem Abbau nationalstaatlicher Souveränität im föderativen Rahmen möglich sein.“
Genauso ist es gekommen. Zwar gibt es heute das „einig-deutsche Vaterland“, aber über 90 Prozent der Gesetze, die hier gelten, werden in Brüssel und Straßburg gemacht. Nur weil Deutschland in ein gemeinsames Europa eingebettet wurde, fühlen sich unsere Nachbarn nach zwei schlimmen Weltkriegen von uns nicht mehr bedroht. Erkennbar ist aus dieser Geschichte aber auch, dass politische Positionen nicht festgeschrieben sind. Innerhalb von knapp 50 Jahren vertauschten die Union und die SPD regelrecht ihre politischen Positionen, was den Primat der deutschen Einheit angeht. Und das nicht aus Anpassung oder Anbiederung an ihre Wählerinnen und Wähler, sondern im ernsthaften und aufrichtigen Kampf um die richtige politische Antwort auf die Erfordernisse der Situation in der jeweiligen Zeit. Glaubhafte Politik von Männern und Frauen, die schmerzhaft um Antworten auf ihre politische Lebenswirklichkeit gerungen haben.
Und heute? Vor allem werden Programme geschrieben. In künstlichen Diskussionen wird versucht, den eigenen Standort neu zu bestimmen. Das gilt vor allem für die Union, die den Kompass, für was sie denn steht und was sie denn überhaupt ist, in den letzten Jahren unter Angela Merkel ganz offensichtlich verloren hat. Aber gibt es wirklich irgendjemand, der sich zum Beispiel das neue Grundsatzprogramm der CSU, das sie sich 2016 unter Federführung ihres Generalsekretärs Markus Blume gab, auch nur angeschaut hat? Und selbst wenn – machen wir uns unser Bild von den Parteien heute noch auf der Basis von Programmen, die sich die Mitglieder in langwierigen Diskussionen erarbeiten und am Ende dann auf Parteitagen absegnen?
Umgangssprachlich sagt man so schön, der und der „hat sich gerade wieder einmal neu erfunden …“. Aber wo man so spricht, da klingt immer auch durch, dass der so Besprochene sich selbst verloren hat und jetzt fast künstlich versucht, für den anderen wieder interessant zu werden. Aber echte Identitätssuche sieht doch anders aus, als die eigene Neuerfindung mit Blick auf schnelle Akzeptanz durch den anderen. Sie ist mühsam und langwierig, verbunden mit Schmerzen und Häutungen, die dann mit etwas Glück zu neuem Leben und echter Akzeptanz führen.
Ist die Union auf dem Weg dorthin? Sind die Diskussionen dort darüber, was denn heute konservativ sei, nicht arg theoretisch? Gehen sie nicht an dem Leben und der Situation der Menschen in diesem Land immer noch vorbei? Der Eindruck, dass sich die Union zurzeit in der eigenen Nabelschau verliert und so die Bürgerinnen und Bürger gar nicht wirklich neu ansprechen kann, geht nicht so recht weg. Von Tilman Kuban, dem einflussreichen Chef der Jungen Union, bis Friedrich Merz: Ihre Reden sind allzu oft Anhäufungen von Worthülsen und dahingesagten leicht eingängigen Formulierungen, die beim genauen Hinhören leer und bedeutungslos erscheinen. Ein lautstarkes Agieren, ein Buhlen um die Gunst der Wählerinnen und Wähler, wo doch im neuen Jahr gerade wieder Landtagswahlen vor der Tür stehen. Das ist verständlich, aber eher Ausdruck der eigenen Krise als nach außen gerichtete Hilfe, echte politische Krisen wirklich zu bewältigen.
Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte in Mainz und auch Mitglied der CDU, hat vor Kurzem im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ mit einem „Manifest eines modernen Konservatismus“ einige Punkte aufgezeigt, die seiner Partei helfen können, wieder auf Kurs zu kommen. Für Konservative gelte es, „tolerante Offenheit und Menschenfreundlichkeit“ zu bewahren. Es gelte, „Erfahrungswerte und Alltagsvernunft“ gegen abstrakte politische Lösungen ins Feld zu führen. Also wirklich nah am Menschen zu sein. Märkte müssten immer noch von Ordnungspolitik einhegt werden. Wie wahr! Aber auf der anderen Seite dürfe der Staat die Menschen nicht reglementieren. Und so sehr „Ungleichheiten“ zu einer „offenen und freien Gesellschaft gehörten“, so gelte es heute auch anzuerkennen, „dass wachsende Vermögensungleichheiten zu so unterschiedlichen Lebenschancen führen, dass zumindest ein Zielkonflikt mit der Unantastbarkeit des Eigentums besteht“. Auf deutsch: Es kann nicht sein, dass die Reichen immer reicher werden, während die Mitte der Gesellschaft nicht weiß, wie es für sie weitergehen soll.
Nur wenn es der Union gelingt, die Alltagswirklichkeit wieder so glaubhaft in den Blick zu nehmen, dass Menschen sich in ihrer Lebenswirklichkeit angesprochen fühlen, hat sie eine echte Zukunftschance.
Straubinger Tagblatt vom 20. November 2021