Autonomie durch Selbsthingabe – Gerhard Lohfink hat kurz vor seinem Tod eine ebenso luzide wie ergreifende Autobiographie geschrieben

Autobiographien sind dann spannend, wenn es ihnen gelingt, das Ineinander von Leben und Werk so zu erzählen, dass man gebannt mitverfolgt, was im Leben eines Menschen geschehen ist, um ihn am Ende zu dem zu machen, der er geworden ist. Kurz vor seinem Tod hat der Tübinger Theologe Gerhard Lohfink sein Leben aufgeschrieben. Fast 90 Jahre war er da schon alt. So ist er also ein Zeitgenosse Karl Rahners, Joseph Ratzingers oder auch Hans Küngs, Menschen, die noch ganz in der Selbstverständlichkeit des christlichen Glaubens aufgewachsen sind: die als Kind den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, als junger Mann das „Zweite Vatikanische Konzil“ und dann am Ende ihres Lebens die explosionsartigen Veränderungen unserer schnellen und modernen Welt.

Aber diesen Männern aus dieser Zeit war es halt noch gegeben, die entscheidenden Lebensfragen überhaupt zu spüren und in geeigneter Weise zur Sprache zu bringen. Allein schon die Berufungserfahrung, die Lohfink schildert, lohnt das Lesen. Ein Hochschullehrer der Jesuiten spricht Lohfink als jungen Mann an, ob er schon einmal daran gedacht habe, Priester zu werden. Der Angesprochene schildert die Erfahrung so: „Ich widersprach ihm heftig – und war dennoch bis in die Tiefe getroffen …

Die Entscheidung fiel innerhalb weniger Stunden. Ich stellte mir immer wieder beide Möglichkeiten vor Augen: das, was ich mir in bunten Fantasien erträumt hatte – und das, was jetzt plötzlich vor mir stand: ein ganz anderes Leben …“Lohfink entscheidet sich innerhalb weniger Stunden, dass er Priester werden will; aber für den Leser interessant ist vor allem, dass er zu der Lebensweisheit gelangt, dass ein Mensch sich entscheiden muss. Dass er nicht im offenen unentschiedenen Lebensraum stehenbleiben darf, wie so viele junge Menschen das oft genug tun. Sondern: „Die Forderung klarer und eindeutiger Entscheidung“ wird für ihn ein wesentliches Element seines Lebens und Strebens. Allerdings weiß er auch – und das ist genauso entscheidend: „Dass die großen Entscheidungen unseres Lebens eben doch gespeist wurden aus unendlich vielen kleinen Entscheidungen unseres Alltags – sogar aus den Hilfen und Hoffnungen derer, die unseren Lebensweg voll Liebe und Treue begleitet haben.“

Das führt zu einem zweiten Aspekt des Buches, der wichtig ist. Denn einem übersteigerten Autonomiebegriff der Moderne, die oft genug davon ausgeht, dass ein Mensch von sich aus Entscheidungen trifft und sie im Leben dann durchsetzt, setzt Lohfink die Erfahrung entgegen, dass Menschen – bei all ihrer Sehnsucht nach Autonomie – vor allem eingebunden sind in Beziehungen, die sie nicht abstreifen können und die ihre Sehnsucht nach völliger Selbstständigkeit gleichsam einrahmen. Er macht das am Begriff der „Person“ fest, wenn er schreibt: „Personsein heißt also ganz wesentlich: In Beziehung-Sein. Ohne das Beziehungsgeflecht, in dem wir in der Vergangenheit gelebt haben und in dem wir noch immer leben, wären wir nicht mehr der, der wir jetzt sind, ja, wir wären überhaupt nicht.“ Und von dorther schlägt er die Brücke zur Liebe und zur Liebesfähigkeit des Menschen: „Am stärksten sichtbar wird das alles in der Liebe, in dem Sich-Hinwenden zu einem anderen Du, im Sich-Anvertrauen, im Sich-selbst-Hergeben. Jede menschliche Person ist also Selbstand, ist aber auch in einem außerordentlichen Maß Beziehung. Und zwar viel intensiver, als wir uns das normalerweise vorstellen. Wir denken meist, wir würden in uns selbst ruhen. Aber das stimmt eben nicht.“

Ein dritter Aspekt des Buches sei hervorgehoben. Die Frage nach Zeit und Ewigkeit. Es gab ja früher die Vorstellung, dass Gott am Ende aller Zeiten die Toten und die Welt erlöst und dann eben eine neue Zeit beginnt. Wir wissen heute, dass diese Vorstellung ganz falsch ist. Die Ewigkeit gibt es immer schon, und sie wirkt in die Lebenszeit dieser erfahrbaren Welt hinein. Und ein Mensch, der stirbt, stirbt sofort in Gott hinein. Da gibt es keine Wartezeiten! Lohfink formuliert das so: „In der Existenz nach dem Tod kann es nur eingesammelte, heimgeholte, von Gott erfüllte Zeit geben und keine in Wochen, Monaten und Jahren ablaufende Zeit.“ Das Leben in der Ewigkeit ist also kategorisch von unserem Zeit- und Raumerleben in dieser Welt verschieden. Es wirkt als gegenwärtige spirituelle Welt in diese Welt hinein. Denn: „Wir alle leben schon jetzt unmittelbar im Angesicht der letzten Dinge. Auferstehung und jüngstes Gericht sind uns hautnah, und das Heute, das wir noch haben, ist von einem unendlichen Gewicht. Dieses geschenkte ‚Heute‘ drängt uns, an der Heilung und Heiligung der Welt mitzuarbeiten.“

Gerhard Lohfink spricht in seinem guten Buch noch viele andere Themen an, die uns umtreiben. Warum gibt es das Böse in der Welt? Ist Jesus nach seinem Tod den Jüngern wirklich begegnet oder waren das alles nur Einbildungen. Und all das wird eingebettet in ein gelassenes Erzählen des eigenen Lebens. Das Buch von Lohfink sei als tiefsinnige, aber gut lesbare Sommerlektüre empfohlen.

Straubinger Tagblatt vom 10. August 2024