Leitartikel: Die Entzauberung des Bundeskanzlers

Das ist in der Vielzahl der politischen Meldungen der letzten Tage etwas untergegangen: Bundeskanzler Friedrich Merz hat mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj telefoniert und ihn gebeten, sich darum zu kümmern, dass die Männer in der Ukraine, die unter 25 Jahre alt wären, nicht weiter das Land verlassen würden. Diese Männer würden doch in ihrer Heimat gebraucht!

Übersetzt in eine allgemein verständliche Sprache, die etwas näher an der Wirklichkeit ist, bedeutet das: Lieber Präsident Selenskyj, bitte kümmere dich darum, dass deine Männer, bevor sie 25 Jahre alt werden und dann in der Armee dienen müssen, nicht das Land verlassen, sondern weiter in den Schützengräben im Osten des Landes verrecken, denn wir können die in unseren Sozialsystemen Deutschlands und Europas nun wirklich nicht brauchen! Zynischer kann Politik kaum sein!

Um es ganz klar zu sagen: Es ist mehr als verständlich, dass junge Männer, die ihr Leben als ihr Geschenk betrachten, ein Land verlassen, das sie an ihrem 25. Geburtstag auffordern wird, in den Krieg zu ziehen, um dort zu sterben! Das ist eine mehr als normale und menschliche Reaktion! Das ist gut und richtig so, das hat mit Feigheit schon überhaupt nichts zu tun! Noch dazu in einem politischen System, in dem die führenden Politiker allesamt von Anfang an jede Möglichkeit ausgeschlossen haben, einen Kompromiss mit dem Angreifer Russland auch nur zu versuchen, der Menschenleben schonen würde.Selenskyj und die Seinen haben von der ersten Stunde des Überfalls Russlands auf die Ukraine an die Sprache des Krieges martialisch erwidert. Den Hass und die Aggressivität Putins in gleicher Weise zurückgespiegelt. Friedensmöglichkeiten, die kompromissbasiert gewesen wären, von Beginn an radikal ausgeschlossen. Hunderttausende Menschen sind in fast vier Jahren schon gestorben – auf beiden Seiten.

Während Präsident Wolodymyr Selenskyj in der ganzen Welt von Staatsbankett zu Staatsbankett eilt, um dort um mehr Waffen für sein Land zu bitten, dabei gut zu essen und sich auch persönlich hofieren und beklatschen zu lassen, „sterben daheim die Leut‘“, wie man das auf Bairisch formuliert. Und hinter eine solche Figur, die noch dazu von einem System der Korruption umgeben ist und staatsanwaltschaftliche Ermittlungen dagegen mehrfach unterbinden wollte, wie sich letzte Woche in aller Deutlichkeit herausstellte, stellt sich ein deutscher Bundeskanzler und fordert ihn noch dazu auf, das Wegreisen seiner jungen Leute zu verhindern. Das ist mehr als beschämend!

Vor allem für einen Mann, der einer Partei angehört, die immer noch das christliche „C“ im Namen trägt. Dieses Telefonat des Bundeskanzlers Friedrich Merz ist das Gegenteil einer Handlung, die christlich genannt werden könnte. Wollen wir diesem Kanzler und dieser Regierung gerade mit Blick auf die Frage der Wehrpflicht wirklich das Wohl unserer Töchter und Söhne anvertrauen? Doch sicher nicht!

Es kommt allerdings noch einiges hinzu, was bei der neuen Bundesregierung in dieselbe Richtung deutet: Wer heute mit internationalen Hilfsorganisationen in diesem Land spricht, der erfährt, dass diese neue Regierung keinerlei Interesse mehr hat, anderen Ländern aus einer Haltung echter Humanität heraus zu helfen. Nicht in Afrika, nicht in Asien und auch nicht in Lateinamerika. Um Geld aus dem Entwicklungshilfeetat zu bekommen, der sowieso schon drastisch eingekürzt wurde, müsse man gegenüber der neuen Bundesregierung alle Projekte entweder wirtschaftspolitisch oder vor allem auch sicherheitspolitisch begründen. Für einen echten humanen Ansatz, wo das Leiden der Menschen für die Regierung wenigstens teilweise motiv- und handlungsleitend wäre, sei bei solcher „utilitaristischer Ethik“, wie sie es resigniert nennen, kein Platz mehr. „Germany first“ sei das Motto der unionsgeführten Regierung.

Was in jeder Nachrichtensendung zudem auffällt, ist der neue Ton gegenüber den Flüchtlingen und Asylsuchenden in diesem Land. So richtig es ist, diejenigen auf schnellstem Wege abzuschieben, die hier nichts zu suchen haben oder gar kriminell geworden sind, es ist doch auch erkennbar, dass das, was so viele, die aus anderen Kulturen kommen, in dieses Land einbringen – in den Krankenhäusern, in den Pflege- und Altenheimen – fast nicht mehr thematisiert wird.

Zwischen dem, was die damalige Kanzlerin Angela Merkel 2015 veranstaltet hat und was dem Land so massiv geschadet hat, und dem, was die neue Regierung vor allem auch mit ihrer harschen Sprache und Haltung in der Flüchtlingsfrage aggressiv umtreibt, gibt es an und für sich einen breiten Raum, der politisch sinnvoll bearbeitet werden könnte. Aber darauf hofft man im Moment vergebens! Es dominiert eine Rhetorik, die der AfD die Wähler wegnehmen will, ihr am Ende aber so nur in die Karten spielt.

Ein hohes ehemaliges CSU-Regierungsmitglied hat mir schon vor Wochen gesagt, wie sehr es ihn überrascht habe, wie schnell Friedrich Merz als Kanzler entzaubert worden sei. Diese Entzauberung setzt sich fort. Von den Äußerungen von Friedrich Merz über das, was er im deutschen Stadtbild sehen möchte, bis hin zum Streit um die Zukunft der Rente. Er findet keinen Weg im politischen Alltag, wo bei den Menschen im Land Vertrauen in die Lösungskompetenz dieser Regierung wachsen könnte.Das fortdauernde Tohuwabohu in der Koalition ist auch ein Zeichen von Führungsschwäche. Friedrich Merz hat die Komplexität der Aufgaben eines Kanzlers unterschätzt und ist jetzt im Amt weit überfordert. In der Union gibt es wahrlich bessere Frauen und Männer als Friedrich Merz, die für das Amt des Bundeskanzlers eher geeignet wären. Der eiskalte Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Jens Spahn, gehört allerdings sicher nicht dazu! Hoffentlich bleibt uns in einer Nach-Merz-Ära wenigstens Jens Spahn erspart!

Straubinger Tagblatt vom 21. November 2025