Die Lebensgeschichte des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu könnte auch im Alten Testament stehen. Dort wäre das dann etwa so beschrieben: Ein junger, durchsetzungsstarker Politiker wird von seinem Volk geliebt und mit großer Mehrheit gewählt. Nach einigen Jahren erlebt er sich selbst als König des Landes. Er gibt sich also selbst die Regeln, was geht und was nicht geht. Seine Frau fängt immer mehr an, ihn zu beherrschen. Gemeinsam lieben sie das schöne Leben. Freunde werden regelmäßig kontaktiert, damit sie Geschenke geben, für ihn, den König, aber auch vor allem für die Ehefrau. Die Geschenke werden immer größer und auch teurer – und der Regent spürt längst nicht mehr, dass er sich verlaufen hat.
Dann die Wende: Das Volk will seinen König nicht mehr – und die Justiz ermittelt gegen sein Gebaren. Klar wird für den König, dass nur sein König-Sein ihn noch vor dem Gefängnis bewahrt. Davor hat er aber panische Angst – und so muss er also die nächsten Wahlen unbedingt gewinnen. Er gewinnt sie – aber nur mit Mit-Mächtigen, die buchstäblich der Teufel geschickt hat. Weil das aber seine einzige Chance ist, dem Gefängnis zu entgehen, nimmt er sie in seine Regierung auf. Und plant eine Justizreform, die nur einen einzigen Zweck hat: zu verhindern, dass er jemals ins Gefängnis muss, falls er eines Tages nicht mehr König ist.
Die Menschen im Land demonstrieren gegen ihren König, der sich längst so weit von ihnen entfernt hat, dass sie um ihr Land fürchten. Zu Hunderttausenden gehen sie auf die Straße, doch es hilft nicht, der König sieht nur noch sich selbst und sein eigenes Schicksal. An den Grenzen des Landes aber wächst die Gefahr. Doch die Aufmerksamkeit für das, was an den Grenzen geschieht, hat vor lauter Krise im ganzen Land längst nachgelassen. Dann geschieht der mörderische Anschlag auf das Land.
Was also tun, fragt sich der König, der sofort begreift, dass in der neuen Lage auch eine neue Chance für ihn selbst liegt. Die ganze Welt steht auf der Seite meines Landes, weil sie gesehen hat, wie schrecklich und verheerend die Anschläge waren. Und so entscheidet der König: Das Böse muss vernichtet werden, es muss Krieg geben, die Chance dafür ist jetzt da – und dieser Krieg wird mir selbst helfen zu überleben.
Natürlich, es gibt Stimmen allerorten, die ihn warnen, einen solchen Schritt zu gehen. Schon am ersten Tag seines Krieges sterben viele Söhne des eigenen Landes, aber der König kann darauf jetzt keine Rücksicht nehmen. Nur wenn er den jetzt betretenen Weg immer weitergeht, dann hat er noch eine Chance auf ein Überleben, wie er es sich vorstellt.
So in etwa würde das im Alten Testament beschrieben. Der vorläufige Ausgang der Sache steht in dieser Woche nicht im Alten Testament, sondern in allen Zeitungen. Rund 65.000 Zivilisten aufseiten der Palästinenser, darunter Tausende Kinder, wurden im Gazastreifen getötet. Die Häuser sind zerstört, es gibt Hunger, der grenzenlos ist – und vor allem Traumata, die über Generationen bleiben werden. Menschen dort haben ihre nächsten Angehörigen verloren, Brüder, Schwestern, Eheleute. Ganze Familien wurden ausradiert. Die Terroristen, die die Anschläge vom 7. Oktober begangen haben, sind immer noch da. Der Hass ist noch stärker geworden, die Sicherheit Israels eine Zeit lang jetzt größer, aber auf lange Sicht ist völlig unklar, wohin die Reise im Nahen Osten geht. Rund 1.000 Frauen und Männer sind auf Israels Seite in diesem Krieg gefallen, 20 Geiseln sind noch lebend nach Israel heimgekehrt – und Benjamin Netanjahu lässt sich für den brüchigen Frieden im Parlament feiern, als wäre er der Heilsbringer für sein Land.
Der Auftritt von Donald Trump vor der Knesset in Jerusalem war vulgär. Er war in Anbetracht der furchtbaren Situation für so viele auf allen Seiten überhaupt nicht angebracht. Der lautstarke Beifall von den Claqueuren Netanjahus im Parlament wird von vielen Menschen in Israel, vor allem von den Intellektuellen des Landes, nicht geteilt. Dass Donald Trump in seiner Rede eine Begnadigung Benjamin Netanjahus vorschlägt, weil es ja doch nur um ein paar Flaschen Champagner und ein paar teure Zigarren gegangen wäre, ist in Anbetracht dessen, was daraus entstanden ist, absurd. Im schönen Leben des Ministerpräsidenten, das ihn – wie die Figuren im Alten Testament – verführt hat, liegt der Schlüssel für die Katastrophe, die jetzt jeden Tag wieder neu auf den Bildschirmen des Fernsehens betrachtet werden kann. Das mit einer lässigen Geste vom Tisch zu wischen, wird dem, was geschehen ist, überhaupt nicht gerecht.
Die Bilder zu dieser Geschichte Netanjahus hat in dieser Woche das öffentlich-rechtliche Fernsehen geliefert. Zu später Stunde wurden die vielen Mitschnitte aus den Verhören von Netanjahu, dessen Frau, aber auch von den Freunden, die den Ministerpräsidenten mit Geschenken versorgt hatten, gezeigt. Beredte und eindeutige Zeugnisse. Da saß der große Mann ganz klein vor seinen Richtern. Ein Bonvivant, der sich vorgeblich an nichts erinnern kann. Eine keifende Ehefrau, die in jeder Geste und mit jedem Satz an die Ehefrau des Diktators Nicolae Ceau(¸s)escu in ihren letzten Lebensstunden erinnert. So klein werden also die Mächtigen, wenn sie sich auf einmal nicht mehr auf dem gewohnten Königsthron wiederfinden und Rechenschaft von ihnen gefordert wird.
Der Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung war von Anfang an unmenschlich, sowohl für die Soldaten Israels als auch für die vielen Menschen in Gaza, die so schlimm leiden oder sogar sterben mussten. Die Erklärungen der Generäle, dass man sich an jedes Kriegsrecht halten werde, waren zynisch und verlogen. Was soll das für ein Kriegsrecht sein, wo Krankenhäuser zerstört werden, weil sich im Keller Terroristen aufhalten? Was soll das für ein Kriegsrecht sein, wo Kinder auf offener Straße verhungern? Eine echte Gefahr, dass die Terroristen der Hamas einen zweiten Anschlag in gleicher Weise wiederholen könnten wie den vom 7. Oktober, was einen solchen Krieg vielleicht theoretisch noch hätte rechtfertigen können, gab es nicht, so sagen es die Fachleute.
Wie schreibt der Priester und Reformer Don Lorenzo Milani: „Wir haben also unsere Bücher genommen und um gut hundert Jahre zurückgeblättert, weil wir einen gerechten Krieg suchen wollten. Es liegt nicht an uns, dass wir keinen solchen gefunden haben. Unsere Lehrer hatten vergessen, uns auf eine Binsenweisheit aufmerksam zu machen, nämlich dass die Heere immer dem Befehl der herrschenden Klasse unterstehen.“
Straubinger Tagblatt vom 17. Oktober 2025