Leitartikel: Dialogbereitschaft – Denken mit dem Kopf des anderen

Ein Geschäftsführer, mit dem ich sehr gut bekannt bin, hat mir vor Kurzem eine interessante Geschichte erzählt: Der Inhaber der Firma, für die er seit Jahrzehnten arbeitet, wollte vor ein paar Jahren den Erfolg seines Hauses deutlich vergrößern und stellte deshalb einen zweiten gleichberechtigten Geschäftsführer ein. Der neue Mann allerdings war wenig an einem guten Auskommen mit ihm interessiert. Sein Interesse war erkennbar das, den altgedienten Haudegen aus der Firma herauszubeißen und selbst der alleinige Geschäftsführer zu werden.

Er verhielt sich also meinem Bekannten gegenüber hochaggressiv, um den so auf schnellstem Weg zu einem freiwilligen Rückzug zu verleiten. Mein Bekannter war tatsächlich mit seinen Nerven schnell am Ende und wusste sich keinen Rat mehr. Er wollte sich nicht in gleicher Weise feindselig verhalten, hatte aber auch nicht mehr die Kraft, seinen stillen Widerstand durchzuhalten.

Also unternahm er Folgendes: Er ging zu einem bekannten Psychotherapeuten und fragte den, was er denn tun könne; der wiederum führte eine sogenannte „Familienaufstellung“ mit ihm durch, also eine Abbildung der sozialen Situation mit dem Konkurrenten und den anderen Mitarbeitenden in der Firma, was sonst oft in Familien gemacht wird, um soziales Verhalten verstehen und erklären zu können. Heraus kam am Ende recht schnell: Der neue Konkurrent verträgt eines nicht: Nähe! Der Rat des Psychotherapeuten war also: Gehen Sie nicht aggressiv auf den neuen Mitbewerber um die Geschäftsführung zu! Gehen Sie ihm auch nicht aus dem Weg! Sondern gehen Sie in jeder Situation einen Schritt auf ihn zu und bleiben dabei freundlich! Gesagt – getan.

Statt auf dem Firmenparkplatz sein Auto weit weg vom Mitbewerber zu parken, stellte er fortan seinen Wagen direkt neben ihm ab und begrüßte ihn auf das Freundlichste. Bei jeder weiteren Begegnung ging er nicht einen geängstigten Schritt zurück, sondern einen freundlichen Schritt nach vorne. Und genauso verhielt er sich von da an in allen Situationen der wechselseitigen Begegnungen: immer freundlich, immer wohlwollend. Er machte sein eigenes Verhalten eben nicht vom Verhalten des anderen abhängig, sondern hielt die eigene Souveränität und die eigene Autonomie seiner Persönlichkeit durch.

Das Ende vom Lied: Der neue Konkurrent war auf einmal so verwirrt, dass er so viele Fehler machte, dass der Unternehmer ihn drei Monate später entließ und dankbar war, wieder mit seinem altgedienten langjährigen leitenden Mitarbeiter alleine weiterzuarbeiten.

Der Autor und Filmemacher Alexander Kluge, mittlerweile 93 Jahre alt, geht in einem gerade erschienenen Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“ mit Blick auf die Kriege im Nahen und Mittleren Osten und in der Ukraine einer ganz ähnlichen Spur nach.

Er meint: „Es geht darum, den Punkt zu finden, an dem selbst ein Tyrann oder ein Böser bereit wäre, einem Deal zuzustimmen.“ Also nicht selbst in die endlose Dauerschleife einer aggressiven Auseinandersetzung einzutreten, sondern, wie Kluge meint, „die Generosität finden, für einen Moment mit dem Kopf des anderen zu denken. Ich muss mich ganz in die Perspektive des Gegners hineinversetzen: Was könnte ihm so wichtig sein, dass er bereit ist, seine Verbrechen zu beenden, seine Irrtümer einzusehen?“ Das Mittel der westlichen Welt in den Auseinandersetzungen dieser Welt ist heute ein gegenteiliges Handeln. Es besteht aus den Säulen: eigene konfrontative Aggression, Isolation und Sanktion, weitgehender Dialogabbruch.

Vor ein paar Wochen sagte der neue Außenminister Johann Wadephul, dass er nicht bereit sei, mit Russlands Außenminister Lawrow überhaupt zu sprechen. Der sei ein Lügner, mit „solchen Leuten spreche ich nicht“, so meinte er in selbstbewusster moralischer Überlegenheit in einer Talkshow.

In seinem Privatleben kann er das schon so handhaben, als politische Maxime in einer globalisierten Welt, wo alles mit allem zusammenhängt, ist ein solches Sprechen mehr als fehl am Platz, es ist im Letzten eine Arbeitsverweigerung aus einer angemaßten moralischen Überlegenheit heraus! Eine solche Haltung schadet unserem Land! Denn sie verweigert bewusst die jeden Tag wieder neu notwendige Bemühung, echte Lösungen für scheinbar ausweglose Situationen zu finden.

Alexander Kluge verweist am Ende des Interviews in der „Zeit“ auf eine Geschichte aus „Tausendundeiner Nacht“, die er so erzählt: „Scheherazade, die Tochter eines Wesirs, weiß, dass sie sterben wird. Der König hat beschlossen, jede Nacht eine neue Frau zu heiraten, um seine Begierde zu stillen, und sie am nächsten Morgen töten zu lassen, aus Angst vor Verrat.“ Das Mädchen aber beginne, dem König eine Geschichte zu erzählen, deren Ende immer jede Nacht wieder offenbleibe, sodass der König gespannt auf die nächste Nacht warte, um zu erfahren, wie die Geschichte denn nun weitergeht.

Den anderen also in ein Gespräch buchstäblich immer wieder neu zu verwickeln, ihn neugierig zu machen auf eine bessere Welt, die jenseits von Gewalt und Krieg ist, das wäre ein Plan. Natürlich – ein Märchen, aber die Botschaft dahinter: bedenkenswert!

Straubinger Tagblatt vom 11. Juli 2025