Von berühmten Menschen der Zeitgeschichte kennen wir oft nur ihre Außenansicht. Die Bilder von ihnen, die allabendlich über die Fernsehschirme flimmern, tragen sich ikonographisch in unser Gedächtnis ein. Aber wer sind diese Menschen wirklich? Barack Obama, Angela Merkel oder auch Sophia Loren? Was ist ihre Geschichte, welche Gefühle sind es, die sie antreiben, was lieben sie, was lehnen sie ab? Und oft genug sind auch ihre Lebenserinnerungen nur geschönte Maskeraden ihres Auftritts in der Öffentlichkeit, wo wenig gesagt und allzu viel verschwiegen wird.
Ganz anders hat das Papst Franziskus in seiner Autobiografie gehalten, die unlängst in mehr als 100 Ländern gleichzeitig erschienen ist. Um es vorweg zu sagen: Papst Franziskus erzählt von seinen Kindheitstagen bis in die heutige Zeit mit einer Aufrichtigkeit, die staunen macht. Von seiner Familie, einer armen italienischen Einwandererfamilie in Argentinien, seinem Berufungserlebnis, seinen Begegnungen mit anderen Menschen über Jahrzehnte, seinen Ängsten, seinen Hoffnungen, seiner Sehnsucht. Und er tut all das mit einem Erzählen, das an die großen südamerikanischen Autoren erinnert, die wir hier in Europa so gerne gelesen haben, etwa an Gabriel García Márquez mit seinem Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“.
Es ist die Liebe, die ihn führt und antreibt
Franziskus zeigt sich in seinen Memoiren nicht nur als ein großer Freund des Kinos, sondern gerade auch als ein Kenner der großen Literatur, von Hölderlin bis Jorge Luis Borges. Kein Wunder also, dass er sich sprachlich so trittsicher durch seine Lebenserinnerungen bewegt. Und was also treibt ihn an? Es ist die Liebe. Franziskus ist ein liebender Papst, dem von Kindheit an eine Herzensbildung gelingt, die ihn heute zu diesem empathischen Papst macht, der sich weigert, in den abgeschiedenen päpstlichen Gemächern in Rom zu wohnen, weil er unter Menschen bleiben will.
In der Mitte seines Buches zitiert Franziskus die Geschichte von Kain und Abel, wie sie der argentinische Schriftsteller Borges literarisch weiterspinnt: Nach ihrem Tod treffen sich Kain und Abel in der Wüste. Sie sitzen erschöpft nebeneinander, bis Abel fragt: „Hast du mich umgebracht oder ich dich? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Immerhin sitzen wir hier beisammen wie früher.“ Und Kain antwortet: „Jetzt weiß ich, dass du mir wirklich vergeben hast. Denn vergessen heißt vergeben. Auch ich werde versuchen zu vergessen.“ Das ist die innerste Weisheit des Buches von Franziskus: Alle Menschen sind Sünder und brauchen Vergebung und immer wieder neue Annahme durch den Anderen.
So erzählt der Papst äußerst anschaulich, wie er als Priester von einer Prostituierten, die er kennt und mag, gerufen wird, um für sie und andere Damen des horizontalen Gewerbes eine Messe zu halten. Er kommt dem gerne nach, hört bei einigen die Beichte, auch wenn er weiß, dass der Lebensweg der Damen sich nicht unbedingt für immer ändern wird. Und als seine Bekannte, die Prostituierte Porota, am Ende ihres Lebens ankommt, schildert er das so: „Einige Zeit später rief sie mich ein letztes Mal an, da lag sie schon im Krankenhaus. ‚Ich hätte gerne, dass du mir die Krankensalbung gibst und die Kommunion. Dieses Mal komme ich vermutlich nicht davon, weißt du.‘ Zwischendrin verfluchte sie einen Arzt und schrie eine andere Patientin an. Sie hatte keineswegs den Biss verloren, nicht einmal am Ende“, so lebendig erzählt das Franziskus. Und so wird er in seinen Memoiren erkennbar als Freund des Lebens, als Anwalt der Armen und Ausgestoßenen, denen sein Herz und seine ungebrochene Sympathie gehören. Er weiß, dass „wir von den Armen sehr viel lernen können. Wenn man von mir sagt, ich sei der ‚Papst der Armen‘, dann bete ich nur, dass ich mich dieser Bezeichnung würdig erweisen möge“.
Eine Woche vor Weihnachten wird Franziskus 1936 in Buenos Aires geboren. Sein Großvater war noch im Ersten Weltkrieg auf der Seite Italiens, und er gibt dem Enkel dieses Verständnis von Kindheit an mit: „Der Krieg ist Wahnsinn!“ Als Papst wird Franziskus später die Soldatenfriedhöfe zweier Weltkriege besuchen und ein Foto verschicken, wo ein Kind seinen kleinen, von der auf Nagasaki gefallenen Atombombe getöteten Bruder wie einen Rucksack über den Schultern trägt. Und er zitiert Bertolt Brecht mit dessen Gedicht: „Nachdem das sinnlose Blutbad beendet war, unterschied ein Vertrag zwischen Siegern und Besiegten. Bei den Besiegten das niedere Volk hungerte. Bei den Siegern hungerte das niedere Volk auch.“ Der Papst realistisch dazu: „Denn so ist das nun mal im Krieg.“
Papst Franziskus weiß, was im Menschen ist
Neben seiner ungeheuren Liebe für die Armen ist das Verständnis, dass es in Kriegen keine Sieger, sondern nur Verlierer gibt, das große Thema von Franziskus. Es gibt keine nur guten Menschen, so weiß es Franziskus, und deshalb ist es für ihn unbedingt nötig, jeden Tag wieder neu für den Frieden einzutreten, in einer Welt von Kriegen friedensfähig zu bleiben oder zu werden.
Das Wissen, dass Menschen in schlimmste Abgründe kommen können, aber doch immer wertvoll bleiben, das ist der tiefe Humanismus, der von Franziskus ausgeht: „Gott ist im Leben eines jeden Menschen. Gott ist in jedem einzelnen. Selbst wenn das Leben einer Person eine absolute Katastrophe war, wenn es von Lastern, Drogen oder anderen Dingen zerstört wurde, ist Gott im Leben dieses Menschen. Man kann und muss Ihn in jedem Leben suchen. Und Gott beschränkt sich nicht auf psychologische Versicherungen, Er ist kein Medikament zur Linderung von Ängsten. Er tut nämlich sehr viel mehr: Er eröffnet uns die Hoffnung auf ein neues Leben. Man bleibt nicht gefangen in seiner Vergangenheit, wie auch immer sie aussehen mag. Man kann vielmehr beginnen, die Gegenwart auf andere Weise zu sehen.“
Der Titel des Buches „Hoffe“ befiehlt dem Leser regelrecht, sich der Hoffnung anzuvertrauen, denn: „Die christliche Hoffnung ist unbesiegbar, weil sie kein Wunsch ist. Sie ist die Gewissheit, dass wir alle auf etwas zugehen, von dem wir nicht nur wünschen, es wäre da, sondern das ganz einfach schon da ist.“ Dem setzt er – in großartiger Diagnose der Krankheit des postmodernen Menschen – die Lust an der Verzweiflung und die Lust an der Melancholie entgegen. Denn, so weiß er: „Es gibt eine Traurigkeit, die zur ‚Lust an der Unlust‘ wird, die es genießt, sich in einen grenzenlosen Schmerz zu hüllen. Auch die Verzweiflung hat etwas Verführerisches, das in dem masochistischen Bewusstsein unserer Zeit so gegenwärtig ist.“
Wie ein guter Psychotherapeut versteht Franziskus auf vielen Seiten seiner Autobiografie, was im Menschen ist und ihn umtreibt. Seine eigenen Erfahrungen spart er dabei gerade nicht aus, etwa das Kindheitserlebnis, als ein Schulfreund, der der Intelligenteste und Begabteste in der Klasse war, eines Tages die Pistole des Vaters nimmt und einen anderen Freund einfach erschießt. Nach der Entlassung aus der Psychiatrie nimmt sich der Freund das Leben. „Manchmal ist, wie der Psalm das sagt, das Herz des Menschen ein Abgrund“, so kommentiert Franziskus diese Geschichte.
Berührende und zugleich erheiternde Erinnerungen
Das Herz des Menschen, das ist das ganz große Thema des Papstes. Er setzt es nicht nur dem Krieg und der Gewalt, sondern auch den Verführungen der Digitalisierung entgegen: „Der Algorithmus, der die digitale Welt beherrscht, zeigt uns doch im Grunde, dass unsere Gedanken und unsere Willensentscheidungen viel konventioneller, gewöhnlicher, standardisierter sind, als wir glauben. In gewisser Weise sind sie leicht vorhersehbar und ebenso leicht zu manipulieren. Mit dem Herzen ist das anders. Wir sind unser Herz, weil es uns von anderen unterscheidet, uns in unserer spirituellen Identität ausmacht, uns in der Gemeinschaft mit anderen Menschen trägt.“
Sein eigenes Herz ist es, das Franziskus mit seiner Autobiografie dem Leser öffnet. Nicht einmal sein Berufungserlebnis in einer Kirche – gleichsam aus dem Nichts heraus – verschweigt er, sondern er teilt es aus Liebe heraus mit jedem Nächsten, der lesen kann und lesen mag. Diese Autobiografie von Papst Franziskus ist ein ungeheures Leseerlebnis! Es ist an vielen Stellen berührend und treibt dem Leser die Tränen in die Augen. An anderen Stellen ist es so humorvoll, dass man dem Lachen beim Lesen nicht auskommen kann.
Und es wird auch klar: Dieser Papst, der so oft verdächtigt wurde, dass er nicht genug für die Welt und die Kirche bewegt, dass er für Veränderungen nicht aufgeschlossen genug ist, ist in Wirklichkeit ein ganz großes Geschenk für diese Welt. Es gibt Memoiren, die verbergen, was wirklich geschehen ist. Das großartige Buch von Franziskus ist das Gegenteil davon, es ist in seinem Inhalt und von seinem Erzählen her eine Bereicherung, auf die man nicht verzichten sollte!
Papst Franziskus: Hoffe. Die Autobiografie. Aus dem Italienischen von Elisabeth Liebl. Kösel Verlag 2025, 384 Seiten, 24 Euro.
Straubinger Tagblatt vom 18. April 2025