Leitartikel: Gute Gegenwelten für junge Menschen

Vor drei Tagen zeigte das Fernsehen nochmals den faszinierenden Film von Rosa von Praunheim über das Leben und Sterben des Schlagersängers Rex Gildo. Ein Straubinger Künstler, aber was für ein tragisches Schicksal! Die Eltern früh getrennt, die geliebte Mutter stirbt, als der Junge 13 Jahre alt ist.

Der ehrgeizige Sohn gerät schnell unter die Fittiche eines nicht weniger ehrgeizigen Managers, der beruflich und auch privat sein Schicksal wird. Homosexuell in einer Zeit, da das zu verbergen war. Entwurzelt, buchstäblich, am Ende singt Rex Gildo unzählige Male „Hossa, hossa“, sein Markenzeichen, das ihm längst fremd geworden ist. Hineingewachsen in eine Rolle, in ein Leben, in eine zweite Haut, die niemals die seine war. Nach der Karriere in der „Hitparade“ mit Dieter Thomas Heck und anderen großen Shows ganz am Ende Auftritte in Möbelhäusern. Zum Schluss der Sprung aus dem Fenster. Das Ende eines Lebens, das im Letzten chancenlos war.

Es bleibt zutiefst faszinierend zu beobachten, wie zwei, drei biografische Stellschrauben ein Leben bestimmen. Wie ausweglos ganz schnell Situationen werden können, aus denen man sich nicht mehr befreien kann.

Ein zweites Beispiel: Franz Beckenbauer. Wie viele Filme gab es in den letzten Monaten, die sein Leben nochmals beleuchteten. Ein früher Erfolg, eine frühe Ehe, drei Söhne. Dann die Fotografin. Die einzige Frau, die am Spielfeld steht. Das Kopftuch interessant gebunden, beim Fotografieren die Zigarette in der Hand. Eine Versuchung, eine Verführung. Franz Beckenbauer verlässt Frau und Kinder. Zeitgleich Steuerprobleme, die von der Boulevardpresse groß ausgeschlachtet werden. Was bleibt, ist die Flucht nach Amerika in eine Operettenliga. Natürlich mit Geld und Pele und wunderbarer Freiheit. Aber beide Themen bleiben für Franz Beckenbauer dann bestimmend – ein Leben lang. Die Welt der Frauen und kleinere oder auch größere Ungenauigkeiten mit finanziellen Dingen.

„Biografie: Ein Spiel“ hat der Schriftsteller Max Frisch ein kleines Drama genannt, in dem ein Mensch die Möglichkeit erhält, sich in die Vergangenheit zu begeben und nochmals neu und anders oder auch besser zu entscheiden. Der Mann entscheidet aber – wie unter Zwang – alles erneut genauso, außer, dass er nicht mehr in die kommunistische Partei eintritt.

Was bewegt uns? Warum treffen wir welche Entscheidungen? Welche Freiheitsräume haben wir am Ende wirklich? Die sogenannte Schicksalspsychologie, begründet vom Zeitgenossen Sigmund Freuds Leopold Szondi, beschäftigt sich mit diesen Fragen. Vor über 100 Jahren.

Ein Aspekt dabei: die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen ein Mensch lebt. Schule, Familie, Umwelt, soziales Milieu. Welche Chance hatte Rex Gildo – ohne den Schutz seiner Eltern? War Franz Beckenbauer in seinen jungen Jahren, als er seine Familie verließ, überhaupt bewusst, wie dramatisch diese Entscheidung für ihn und die Seinen ist? Welche Freunde und Ratgeber gab es? War seine Entscheidung notwendig oder leichtfertig? Im Milieu des schnelllebigen Fußballgeschäfts, das nur Erfolg und Misserfolg kennt, gibt es sicher auch andere Parameter, die am Ende mitentscheidend werden, als in einer Familie, die ein langsameres Tempo und einen gewöhnlicheren Alltag lebt und erlebt.

Früher hießen die Idole der Kinder auf jeden Fall Franz Beckenbauer oder Günter Netzer. Und vor Beginn der Schulstunden wurde über einen Verzweiflungsschuss von Georg Schwarzenbeck gesprochen, mit dem der Bayern München in letzter Sekunde vor dem Ausscheiden im Europa-Cup bewahrt hatte.

Heute ist das Idol der Kinder oft genug Elon Musk, der die Menschheit beizeiten auf den Mars umsiedeln will. Ein zweiter Gott also, der sich das Schicksal der Menschheit zu seiner Aufgabe gemacht hat. Zusammen mit Donald Trump und ein paar anderen Wahnsinnigen. Und in der Welt des Internets schreit Tiktok gerade an die Kinder seine Botschaften heraus. Jede Minute, jede Sekunde. Dazwischen Hausaufgaben aus Lehrplänen, die – wie es der Pädagoge Klaus Zierer so richtig auf den Punkt bringt – den 50er- und 60er-Jahren entstammen. Noch immer also wird lateinisch konjugiert und dekliniert, bis das Hirn heiß läuft. Und die Orientierung hin auf das eigene Leben? Verstehen, wer man ist und was ein Leben ist?

Früher war nicht alles besser. Aber gute Religionslehrer brachten den Begriff des Gewissens ins Spiel und deuteten auf eine Welt hinter dieser Welt. Das war irgendwie echt und auch spannend. Und in Schillers Dramen wurde immer auch das eigene Schicksal mitverhandelt. Gute Lehrer wurden innere Schicksalbegleiter ein Leben lang. Alles war irgendwie auch langsam und oft genug langweilig. Glücklicherweise. Heute tötet die Vielstimmigkeit der digitalen Welt so vieles ab. Alles ist schnell, zu schnell geworden. Orientierung? Mit Google Maps auf jeden Fall, aber sonst?

Das Schicksal von Rex Gildo zeigt, dass zwei, drei wesentliche Schicksalsaspekte reichen, um ein ganzes Leben auf eine falsche Spur zu bringen. Und was auch klar wird, wenn man ein Leben rückblickend anschaut – das ist ja ganz schnell vorbei, zwei, drei gute Entscheidungen oder auch nicht, mehr ist es kaum, mehr gibt es nicht.

Bringen wird diese Fragen in unserer Gesellschaft noch ausreichend zur Sprache? Geben wir unseren Lehrern Raum für solches Denken und solches Sprechen in den Schulen? Exen also soll es immer noch geben, dabei waren die doch früher schon nur Terror! Künstliche Pseudoleistungsnachweise. Was sollen diese Überraschungsangriffe zur Entwicklung eines jungen Menschen beitragen? Wäre es nicht wichtiger, ihm klarzumachen, dass jeden Tag sein eigenes Leben verhandelt wird? Und dass es nichts Wichtigeres gibt, als sich interessieren zu können für Dinge und vor allem auch andere Menschen.

Aber doch: Noch immer gibt es Plätze, wo junge Menschen geborgen werden und zu sich selbst finden. Die Schule kann das sein, aber auch die vielen Vereine, vom Fußball bis zum Chor. Klaus Zierer meint, wichtig seien eigentlich nur vier Fächer: Kunst, Tanz, Gesang und der Sport. Das Kreative halt. Ganz so ist es sicher nicht – und das weiß der Fachmann auch. Aber ich verstehe, was er sagen will: Wir müssen gute Gegenwelten schaffen, in denen sich junge Menschen auch gut entwickeln können. Weg von Tiktok – hin zur eigenen Persönlichkeit. Rahmenbedingungen, wie sie Rex Gildo nicht hatte. Zukunftschancen, die sich aus dem Reichtum einer sich schön entwickelnden Innen- und Seelenwelt wie von selbst ergeben. Das wäre ein Ziel!

Straubinger Tagblatt vom 28. September 2024