Immer wieder gibt es Menschen, die sehen weit hinaus über ihre eigene Lebenszeit. Propheten der Zukunft, Wegemacher für eine bessere Welt aus ihren oft düsteren Ahnungen heraus.
Sigmund Freud etwa! Dem technischen Fortschrittsglauben, der unendliche Möglichkeiten zu verheißen scheint, setzt er die Entdeckung der Welt des Unbewussten entgegen. Der Mensch ist mehr als das, was ihm machbar erscheint. Seine Träume, seine Ängste, seine tiefsten Gefühle – und all das auch noch verborgen vor seinem eigenen Bewusstsein. Das erkennt Sigmund Freud über viele Jahre hinweg in genialer Weise. Heute arbeiten so viele gute Psychotherapeuten auf dem Pfad, den Sigmund Freud bereitet hat, und versuchen, den hilfsbedürftigen Menschen zu helfen.
Oder auch Franz Kafka! Vor 100 Jahren ist er gestorben. Aber sein Werk nimmt die ganze Möglichkeit des Verlorenseins des Menschen in der heutigen Zeit vorweg. Seine Einsamkeit, seine Frage nach dem Sinn seines eigenen Lebens, die unendlichen vielen Zwänge der Gesellschaft, die ihm oft genug kaum Luft zum Atmen lassen. All das hat Franz Kafka schon beschrieben, als die Welt noch viel langsamer war, als sie es heute oft genug ist.
Ein letztes Beispiel, das ich selber erlebt habe: Eugen Biser – in seiner Lebenszeit oft genug verkannt. Vor exakt zehn Jahren ist er gestorben. Und jetzt – auf einmal – wird all das aktuell, was er in der zweiten Hälfte seines fast 100-jährigen Lebens gesagt und geschrieben hat.1995 veröffentlicht er ein philosophisches Buch: Der Mensch – das uneingelöste Versprechen; noch gibt es das Internet gar nicht, und doch beschreibt Eugen Biser in diesem Buch eine vollkommen veränderte Medienwelt der Zukunft. Es gibt erst kleine Anfänge von dem, was wir heute erleben. RTL und SAT1, einige kleine private Radiostationen. Tutti Frutti mit Hugo Egon Balder, mehr ist da gar nicht. Aber Biser sieht voraus, dass sich die Mediensituation des Menschen im 21. Jahrhundert vollkommen verändern wird.
Lange vor TikTok oder der Plattform X schreibt Biser, dass sich eine Tendenz in den Medien zu entwickeln beginne, „wo ein Eingriff ins Denken gelingt, der die gewohnten Formen der Vergewisserung, Rückfrage und kritischen Interpretation“ unterbinde.
Der Mensch als Medien- Dauerkonsument
Statt den Menschen aufzuklären, würden diese neuen Medien, die Biser vorausahnt, „dem narkotisierten Rezipienten den tragenden Boden entziehen, indem sie ihm anstelle der für seine Grundorientierung unerlässlichen Primärerfahrungen das Surrogat täuschender Reproduktionen bieten. Der Zuwachs an Entmündigung, den sie im Vergleich zu den Gewaltsystemen erreichen, springt in die Augen“, so schreibt er wörtlich. Denn am Ende würde „der Dauerkonsument ihrer Suggestionen zu einer Metapher seiner selbst“. Das bedeutet, dass ein Mensch, der sich fortwährend diesen neuen Medien öffnet, den Kern seines Mensch-Seins, seiner Beziehungsfähigkeit, seiner Urteilskraft verliert.
Eugen Biser: Ein solcher Mensch, „getarnt vor sich selbst durch ständig wechselnde Masken, abgesunken zu einer Kümmerform des Lebens ohne Liebe, Glaube und Lehre, verstoßen in eine Welt der Fragmente, einer atemlosen Sprache, stummer Zeichen und blinder Bilder, einer sich entziehenden Wirklichkeit und der wachsenden Angst“, dem drohe die Gefahr, sich selbst ganz zu verlieren. Es ist schon erstaunlich, dass ein Religionsphilosoph aus München vor 40 Jahren solche Sätze, die erst heute ihr ganzes Gewicht gewinnen, aufschreibt. Eugen Biser war wie ein Seismograph, der aus kleinsten Symptomen heraus Zukunft lesen konnte. Eines Morgens in den 90er-Jahren besuchte ich ihn in seinem kleinen Büro, das er in den letzten Jahren seines Arbeitslebens in der Veterinärstraße bezogen hatte. Er saß vor einem Text der Süddeutschen Zeitung, die gerade ein Interview mit dem damaligen Kardinal Ratzinger gemacht hatte. Es war fast eine Seite lang – und es handelte von allem, aber nicht davon, wer ein Papst der Zukunft sein könnte. Doch Eugen Biser legte die Zeitung sorgfältig aus der Hand auf den Schreibtisch, faltete sie, blickte mich an und meinte nur: „Jetzt will er also Papst werden!“ Und so geschah es dann wenige Jahre später auch.
Auch den Irakkrieg des „kleinen“ George W. Bush sah Eugen Biser von Anfang an voraus. Biser war im Zweiten Weltkrieg schwerstverletzt worden und die Ärzte hatten ihn schon aufgegeben. Aber er biss sich damals durch und überlebte. Die Brutalität dieses Zweiten Weltkriegs, den er in Russland erlebt hatte, ließ ihn niemals los.Schon die Sinnlosigkeit des amerikanischen Kriegs in Afghanistan hatte Biser von Anfang an erkannt. Während deutsche Verteidigungsminister noch davon schwadronierten, dass die „Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt werde“, sprach Eugen Biser immer nur von dem „verdammten Krieg“.
Dass die Amerikaner auch den Irak angreifen würden, sah Biser schon voraus, als alle Welt noch hoffte, dass der „kleine“ Bush von diesem Rachefeldzug für seinen Vater absehen würde. Basierend auf einer Lüge griff der „kleine“ Bush eines Nachts dann doch überfallartig an. Schnell würde es gehen, dachte er. Aber am Ende kam alles ganz anders. Tausende tote amerikanische Soldaten kehrten in Zinksärgen aus dem Irak heim. Das Land selber, das Bush vermeintlich befreien wollte, versank im Chaos, während der amerikanische Präsident auf einem Militärschiff eine Fahne mit der Aufschrift „Mission completed“ hissen ließ. Was für ein Narr!
Eugen Biser sagte immer wieder Sätze, die sich mir tief eingeprägt haben: „Von einem Krieg weiß man immer, wie er angefangen hat, aber nie, wie er ausgeht!“ Wie oft habe ich diesen Satz von ihm gehört. Oder aber: „Wer Krieg und Frieden sagt, der hat den Frieden schon verraten. Denn der Frieden ist durchzuhalten.“
Biser war für Stärke, aber eben nicht für Aggression
In Zeiten, da ein irrgeleiteter Verteidigungsminister von der „Kriegstüchtigkeit“ spricht, sind das Sätze, die in diesen Tagen einen geradezu prophetischen Klang haben. Heute gibt es dagegen den furchtbaren Begriff von der „Friedensdividende“. Als wäre der Frieden etwas, was es glücklicherweise für kurze Zeit geben konnte und in dieser Zeit seine Dividende abgedrückt habe.
Dabei war Eugen Biser eben kein Pazifist, der sich wegducken wollte. Denn er war für Stärke, aber eben nicht für Aggression, für eigene Autonomie, aber nicht für ein Sich-Einlassen auf Provokation. Einem moralisierenden Überlegenheitsgefühl setzte er seine Definition von Toleranz entgegen. Das Aushalten des Anderen, gerade auch im Bewusstsein, dass der die Werte, für die das Christentum und der Humanismus steht, verletzt. Krieg ist kein Mittel der Politik, so Eugen Biser. In keiner Situation und zu keiner Zeit.
Im Kampf gegen die Angst – mit christlichem Vertrauen
Dass es Menschen wie Eugen Biser heute kaum mehr gibt, ist eine Katastrophe. Heribert Prantl beklagte kürzlich in der Süddeutschen Zeitung vollkommen zu Recht das Fehlen eines Bewusstseins in der Gesellschaft, das noch aktiv genug für diesen Frieden kämpft. Er schreibt: „Es ist still. Es ist totenstill. In Deutschland werden Tomahawk-Marschflugkörper und Hyperschallraketen aufgestellt – und es bleibt still im Land. Kein lauter Protest, kein Aufschrei, keine Demonstrationen. Deutschland ist das einzige Land in Europa, in dem diese US-Waffen stationiert werden. Warum ist es so still?“ Er antwortet am Ende so: „Heute lähmt die Angst. Viele schalten gleich ganz und gar ab, wenn es um Krieg, Rüstung und Waffen geht – weil sie das Gefühl haben, vor einem Berg zu stehen, über den sie nicht schauen können, weil der immer höher wird. Man nennt das Aussichtslosigkeit.“
Eugen Biser war genau der Philosoph, der ins Zentrum seines Denkens den Kampf gegen die Angst stellte. Er wusste um die lähmende Kraft der Angst und stellte dagegen die Kraft des christlichen Vertrauens. Das war sein Thema.
Mit Helmut Kohl, dem Altkanzler, telefonierte er jeden Sonntagnachmittag und sie waren da ganz derselben Meinung. Ein echter Christ muss heute aufstehen und für den Frieden kämpfen – genau in dem Sinn, wie Eugen Biser das immer wieder einfordert. Einer Partei, die zwar das C noch im Namen trägt, aber deren Wortführer heute Roderich Kiesewetter oder auch Manfred Weber heißen, darf er bei den nächsten Bundestagswahlen seine Stimme ruhig vorenthalten! Und das buchstäblich guten Gewissens!
Straubinger Tagblatt 27. Juli 2024