Vor Kurzem hielt der bekannte Professor für Erkenntnisphilosophie Dominik Finkelde einen äußerst spannenden Vortrag. Noch einmal stellte er mit Immanuel Kant heraus, dass es eben keine objektive Erkenntnis gebe. Alles Erkennen gebe es nur durch das einzelne Subjekt – und so durch die Sinne, mit denen dieses Subjekt auf die ihm erscheinende Wirklichkeit reagiere. Die Wirklichkeit der Welt ist also für uns immer nur auf der persönlichen Ebene erfahrbar. Sie unterliegt immer Prozessen persönlicher Wahrnehmung und persönlicher Deutung.
Menschen, Personen sind nicht immer ganz normal, ganz gleich, was man unter Normalität versteht. Wer aber Wirklichkeit so erlebt, dass eine Mehrheit seiner Mitmenschen von ihm sagt, dass er nicht ganz normal sei, der wird von sich aus kaum verstehen können, warum das von ihm behauptet wird. Er erlebt ja genau seine Wahrnehmung seiner Wirklichkeit und wird kaum sagen: „Ja, ich bin wahnsinnig!“ Ein bekannter Psychiater fasst das mit dem zauberhaften Satz zusammen: „Erklären Sie mal einem Wahnsinnigen, dass er wahnsinnig ist!“ Das geht halt nicht.
Über die Persönlichkeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist auch in der Öffentlichkeit viel gesagt und geschrieben worden. Vom mörderischen Impuls, der ihn antreibt, von seinem Hass auf die westliche Welt, von der Gefühllosigkeit, mit der er tötet und töten lässt. Ein Mann, vor dem man durchaus Angst haben muss.
Schmidt warnte schon 1968 vor einer Gewaltspirale
Aber es gibt immerhin einen Satz von ihm, der in aller Tiefe verstehen lässt, was ihn im Innersten antreibt. Auf die Frage eines Journalisten, ob es etwas gebe, was er hasse, antwortete er wie aus der Pistole geschossen: „Verrat“. Das muss man ernst nehmen und das hilft zu verstehen, warum er, der in seinem Bewusstsein so weit von unserem Bewusstsein entfernt ist, handelt, wie er handelt.
Systemgegner, ganz gleich, ob in Russland oder im Ausland, erlebt er als Verräter und so sieht er keinen Grund, sie zu schonen. Russland, die Ukraine und Belarus erlebt er in seinem Bewusstsein als zusammengehörig. Den Loslösungsversuch der Ukraine hin zur westlichen Welt sieht er deshalb als Verrat, gegen den er mit aller Härte buchstäblich zu Felde zieht. Der Verrat ist offensichtlich die Kategorie, die bei Putin das Denken, das Bewusstsein, das Handeln maßgeblich bestimmt. Aus einer irgendwie versuchten objektiven Sichtweise eines sich selbst für objektiv haltenden Bewusstseins ist das natürlich absurd. Für den Umgang mit Putin aber ist es unbedingt notwendig, sich vor Augen zu halten, dass da einer weit weg ist von unserem Denken, Fühlen und Handeln – und sich das auch immer wieder neu bewusst zu machen.
Als die Sowjetunion 1968 brutal in Prag einmarschierte und den sogenannten „Prager Frühling“ mit aller Gewalt niederschlug, um so die Tschechoslowakei im Warschauer Pakt zu halten, schrieb wenige Tage nach diesen blutigen Ereignissen Helmut Schmidt in der Münchner Abendzeitung eine kluge Kolumne. Er war damals noch nicht Kanzler, sondern Fraktionschef der SPD. Er warnte davor, dass die Nato auf keinen Fall Gewalt mit Gewalt beantworten dürfe. Er verurteilte das Geschehen, aber warnte vor jedem „Zündeln“, wie er es nannte, und erklärte, dass es gerade jetzt wichtig sei, bei der „Entspannungspolitik“ zu bleiben.
Auch 20 Jahre später machte Schmidt zwar den Weg für die Nachrüstung frei, aber genauso wichtig blieb für ihn der ständige Kontakt mit dem Osten, um Krieg zu verhindern. Horst Teltschik, später engster außenpolitischer Berater von Helmut Kohl, setzte mit der neuen Bundesregierung genau diesen Weg fort, wenn er sagt: „Wir haben immer gesprochen, mit Russland, mit China, wir hätten, um den Frieden zu wahren, auch mit dem Teufel gesprochen.“ Die Außenpolitik der alten Bundesrepublik mit Helmut Schmidt und Helmut Kohl blickte immer sorgenvoll auf die Nachbarn im Osten und suchte jeden Tag neu Wege des Gesprächs und der Verständigung. Der Ton machte die Musik, auch wenn man sich gezwungen sah, militärisch auf Augenhöhe zu bleiben.
Törichte Wortwahl vom Verteidigungsminister
Das ist heute anders. Russland, das sogenannte Putin-Russland wird heute ausschließlich im Westen von außen als Feind gedeutet und alle Antworten auf Putin sind primär militärischer Antwort. Das ist neu – und das ist verheerend. Einem hochaggressiven Mann ausschließlich mit eigener Aggression zu antworten, ist nicht nur dumm, sondern lebensgefährlich. Das törichte Wort von Verteidigungsminister Boris Pistorius von der „Kriegstüchtigkeit“ zeitigt hier seine verheerenden Folgen. Die Nachrüstungsbeschlüsse der Nato, wie sie jetzt auf dem Tisch liegen, sind für Deutschland nicht gut. Sie mögen militärisch im Sinne einer neuen Nato-Strategie durchaus sinnvoll sein, aber sie eskalieren eine schon heute gefährliche Situation weiter. Und Deutschland liegt im Zentrum einer neuen Nato, die also glaubt, sich ausschließlich auf solche Art und Weise verhalten zu müssen. Für unsere Nato-Nachbarn im Osten mag das gut sein, für unser Land ist es das nicht.
So ist man doch dankbar, dass nicht nur die Politiker der Linken oder Sahra Wagenknecht das intellektuell verstanden haben, sondern dass gerade viele Generäle und Führungsoffiziere der früheren Bundeswehr lautstark auf diese Gefahr hinweisen. Denn das sind die Fachleute, die von Berufs wegen im Kalten Krieg verstehen lernten, wie sehr man auf allen Ebenen darum kämpfen muss, Kriege in diesem Europa auch in der Zukunft dauerhaft zu verhindern.
Straubinger Tagblatt vom 19. Juli 2024