Das sollte keine so schwierige Aufgabe sein: eine Reise von München nach Aachen. Eine Abendveranstaltung, am nächsten Tag eine Tagung bis zum frühen Nachmittag, dann zurück, am Abend zu Hause. Also Flug nach Köln, S-Bahn bis Düren, dort Umsteigen in den Regional-Express, der jede Stunde fährt, Ankunft Aachen: 18.30; und am nächsten Tag mit dem Zug bis Köln, Rückflug um sechs Uhr abends, zum Abendessen daheim. Wunderbar! Was gibt es Leichteres!
Bis Düren gab’s auch keine Probleme. Selbst der Ticket-Automat am Kölner Flughafen gab nach einigem Drängen nach und spuckte wenigstens für Bargeld eine Fahrkarte aus. Toll, modernste Technik! Andere Fahrgäste scheitern, geben entnervt auf, ich weiß nicht, warum gerade ich mich bei diesem hartleibigen Automaten durchsetzen konnte. Was für ein Erfolg!
Aber dann: Beim Einfahren in den Bahnhof von Düren sehe ich eine große Schar von Demonstranten auf dem Bahnhof. Was die wohl wollen? Im Service-Center der Deutschen Bahn steht kurz vor sechs eine einsame ältere Frau, bei der ich ein Rückfahrticket nach Köln für den nächsten Tag kaufen will. Sie schaut mich an: „Sie wissen aber schon, dass Sie heute nicht mehr nach Aachen kommen?“ Weshalb das denn? „Die Oberleitung der Bahn nach Aachen funktioniert nicht mehr. Heute geht nichts mehr!“ Und morgen? „Morgen ist ein neuer Tag, ich kann nur über heute sprechen“, meint die Frau gleichsam philosophisch, „was morgen geschieht, weiß doch kein Mensch!“ Und wogegen demonstrieren die Menschen da draußen? „Die demonstrieren nicht, sondern warten auf ein Taxi – nach Aachen.“
Ahhhh… aber wie durch ein Wunder steht, als ich den Bahnhof verlasse, ein offensichtlich vom Himmel gefallenes Taxi vor mir. Und auch einen Fahrer hat es. Aus dem Libanon komme er und er sei auf der Flucht vor dem Krieg dort. Und ich? Ich bin auf der Flucht vor der Deutschen Bahn, antworte ich und noch niemals sei ich so dankbar gewesen wie jetzt, einen Mitbürger aus dem Libanon hier anzutreffen. Immerhin fährt der Mann so Taxi, dass mir sehr bewusst wird, dass er auf der Flucht ist. Aber wir überleben.
Beim Einchecken im Hotel 80 Euro später, gerade noch pünktlich zu meinem Abendtermin – da ertönt plötzlich ein Handysummen aus der Hosentasche. Ein Gruß von zu Hause? Wie freundlich, aber nein, beim zweiten Blick eine Botschaft der Lufthansa: „Ihr Flug für morgen ist annulliert. Ihre neue Reisezeit finden Sie auf unserer Homepage, bitte einfach anklicken!“
Aber das Klicken zeigt eine leere Seite – und am nächsten Morgen bestätigt das Reisebüro, dass eben kein Flug zurück nach München mehr frei wäre, Wartelisten gäbe es immerhin mehr als genug – und da sei ich auch verzeichnet. Großartig, endlich ein Reiseabenteuer! Immerhin weiß der Mann aus dem Reisebüro schon, dass ich kein Einzelfall bin und lässt seinem ganzen Lebenskummer Raum in seiner Klage über die Lufthansa. Das seien keine guten Zeiten mehr für unser Land, meint er – und stöhnt resigniert.
Aber doch, es gelingt: Einen Rückflug gibt es, einen allerletzten freien Platz in der letzten Maschine am Abend, zwar nicht von Köln, aber doch von Düsseldorf, das sei ja doch fast dasselbe. Und auch nicht mit der Lufthansa, sondern mit dem Billig-Flieger Eurowings – und die kurze Pause am Telefon zeigt, dass der Mann im Reisebüro und ich beide wissen, dass das nun wirklich nicht dasselbe ist. Aber in der Not… bitte sofort buchen!
Aber wie kommt man von Aachen nach Düsseldorf? Das geht ja wieder über Düren – und kein Mensch weiß doch, überlege ich bei mir, ob über Nacht die Zugstrecke repariert wurde. Ich habe studiert und folgere mit allem Wissen, das ich mir in vielen Semestern angeeignet habe, dass es immerhin die Möglichkeit gibt, dass die Strecke nicht repariert wurde.
Also im Hotel sofort ein Taxi buchen, durchfährt es mich, bis Düsseldorf, man weiß ja nie, Kosten spielen keine Rolle, sage ich entnervt zur Rezeption, ich will ja nicht in Aachen sterben. Langes Telefonat der liebenswürdigen Dame an der Rezeption, dann abruptes Ende des Gesprächs: „Ja, es gibt ein letztes Taxi, das heute frei ist, aber nicht – wie gewünscht um 17 Uhr, sondern um halb drei am frühen Nachmittag.“ Glücklich buche ich sofort. Ein ganzer Nachmittag auf dem Flughafen Düsseldorf, was will man mehr vom Leben.
Die Fahrt durch halb Nordrhein-Westfalen ist herrlich. Ortsschilder, die man als Bayer sonst nur aus der Sportschau kennt. Dazu ein liebenswürdiger iranischer Taxifahrer im feinen schwarzen Mercedes. Er fährt nur Flughafen Köln oder Flughafen Düsseldorf – Aachen und zurück, das sei eine Marktlücke, schon sein Vater habe sie entdeckt und sei wohlhabend geworden damit, er setze die Tradition fort. Schade nur, dass unser schönes Gespräch ständig gestört wird, weil andere Menschen anrufen, die zum Flughafen wollen, wo doch die Bahnstrecke von Aachen nach Düren kaputt sei. Ahh, das habe ich also richtig analysiert.
Und die Autofahrt bleibt lehrreich, links die letzten Braunkohlereviere, die man sonst nur aus der Tagesschau kennt und auf der anderen Seite der Autobahn unglaublich viele Windräder, die gerade montiert wurden. Thomas Müller von Bayern München habe er auch schon gefahren, sagt der nette Iraner am Steuer, aber der habe die ganze Zeit mit dem Kollegen Musiala telefoniert, den er immer Bambi genannt habe. Und siehe, es gelingt: Ich komme in Düsseldorf an und den letzten Flug am Abend um kurz vor sieben Uhr gibt es wirklich.
Ich checke ein und warte. Und warte und warte. Und dann am Schalter der Eurowings gegen sechs Uhr abends eine letzte Überraschung. Der vorangehende Flug von 15 Uhr nachmittags nach Palma ist noch nicht abgefertigt. Da stehen die Reisenden aufgeregt nebeneinander. Was ist passiert? Eine Stewardess ist ausgefallen, es gibt also nur drei Stewardessen für die 185 Fluggäste, die jetzt mit Eurowings nach Palma fliegen sollen. Nach Adam Riese, so der freundliche, aber verschwitzt-erschöpfte Mann am Schalter, können von den 185 gebuchten Passagieren nur 150 mitfliegen, denn auf eine Stewardess kämen exakt 50 Passagiere.
Ich versuche zu helfen und sage dem Mann am Schalter, dass es den Gästen im Flieger sicher nicht wichtig wäre, ob sie auch in der letzten Reihe noch einen Orangensaft bekämen. Die wollen doch jetzt einfach weiter, kläre ich ihn auf. Entsetzt blickt mich der Schaltermann an und sagt: „Es geht hier doch nicht um den Flug, sondern um den Absturz! Im Absturzfall betreut eine Stewardess exakt 50 Fluggäste, so regelt das der deutsche Gesetzgeber, da gibt es nichts herumzudeuteln!“ Ahh, ich verstehe, ich verstehe nur allzu gut! Und jetzt wird also unter den 185 Fluggästen herausgearbeitet, wer als erstes eingecheckt ist – bis zur Nummer 150 – und das dauert jetzt seit exakt drei Stunden.
Manche drehen bereits etwas durch. Ein Mann ruft, dass er genau heute Abend das Geschäft seines Lebens versäume, eine Frau hält gerade noch die Tränen zurück, ein Dritter droht lauthals mit rechtlichen Schritten, andere haben offensichtlich resigniert und stehen einfach schweigend da. Das Ganze erinnert an die Situation, als die letzten Amerikaner sich gerade noch auf der Flucht mit dem letzten Hubschrauber in Saigon vor den nordvietnamesischen Truppen in Sicherheit bringen konnten, aber vielleicht ist es hier und heute noch schlimmer.
Um sechs Uhr früh geht es doch mit dem nächsten Flug weiter, auch das Hotel werde von Eurowings bezahlt, beschwichtigt der erschöpft-verschwitzte Schaltermann, aber all das hilft wenig. Ich muss an den Zeitungsbericht denken, der vor wenigen Wochen erschienen ist. Eine liebenswürdige Stewardess hatte sich auf einem Flug einem Passagier, den sie gerade im Flieger kennengelernt hatte, auf der Toilette des Flugzeugs in leidenschaftlicher Weise zugewandt. Und was macht die Fluglinie? Entlässt die freundliche Stewardess bereits am nächsten Tag, anstatt ihr zu danken und sie eventuell sogar zu befördern. Bestimmt fehlt hier jetzt genau diese liebenswürdige Stewardess, so durchfährt es mich in meinem Kopf und ich denke, wie verspießt ist dieses Deutschland im 21. Jahrhundert doch immer noch! Und jetzt fehlt genau diese hilfreiche Stewardess, sodass 35 Urlauber nicht mitfliegen können. Ein Skandal!
Immerhin, mein Flieger geht dann doch. Am Nachbarschalter wird jetzt nach München glückselig eingecheckt – und ich bin dabei, während die letzten Gäste für Palma noch ausgelost werden. Der Billig-Flieger der Eurowings scheint mir zwar eher aus dem vorletzten Jahrhundert als aus dem letzten Jahrhundert zu sein – und er klingt beim Abheben auch so, aber irgendwie ist mir das heute egal. Wird schon gut gehen. Und am Ende hat man so wenigstens was zu erzählen.
Abendzeitung vom 6. Juli 2024